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April 2013
19
WAHRNEHMUNG
Stefan Perner, BA, BSc
Achtsamkeit stellt im traditionellen Verständnis einen
geistigen Übungsweg dar, der detailliert in der buddhisti-
schen Schrift des Satipatthana-Sutta beschrieben wird.
Dieser Übungsweg beginnt mit der Betrachtung des eige-
nen Körpers und wird dann auf andere Übungsbereiche
(Gefühle, Geist, Denkinhalte) ausgeweitet. Ziel ist es
dabei, den Geist zu erkennen, ihn zu formen und schließ-
lich seine Befreiung zu bewirken. (vgl. Nyanaponika 1950)
Die Wirkungen von achtsamkeitsbasierten Interventionen
im klinischen Bereich werden seit ungefähr 15 Jahren
intensiv beforscht. Als zentraler Mechanismus wird eine
Veränderung in der Innen- und Außenperspektive be-
schrieben (reperceiving). Dieser Vorgang gilt als Res-
source zur Verhaltensänderung, zur Selbstaktualisierung
und erhöhten Flexibilität im Denken und Handeln.
(vgl. Shapiro et al. 2006, S. 376ff.)
Grossman et al. (2004) fanden, dass Achtsamkeitsschu-
lung zu einem verbesserten Coping mit Stresssituationen
führt. Dabei reicht das Spektrum von alltäglichen Stress-
situationen bis hin zu außergewöhnlichen und andauern-
den Belastungen (zum Beispiel schwerer Krankheit).
Dies zeigt sich sowohl in einem verbesserten körperli-
chen Wohlbefinden (zum Beispiel Reduktion chronischer
Schmerzzustände), als auch in einer verbesserten psy-
chischen Gesundheit (zum Beispiel Reduktion von
Angst- und Depressionszuständen, Rückfallprophylaxe).
Der Anknüpfungspunkt von traditioneller Achtsamkeits-
praxis an die physiotherapeutische Wahrnehmungsschu-
lung (Körperwahrnehmungsschulung) wird durch die
körpertherapeutischen Entwicklungen des 20. Jahrhun-
derts, ausgehend von E. Gindler und H. Jacoby, darge-
stellt. Physiotherapeutische Wahrnehmungsschulung
wird definiert als ein körperbasierter Weg mit bestimm-
ten Zielen und davon abgeleiteten spezifischen Maßnah-
men. Als Ziele sind zu nennen:
°
ein verbesserter Kontakt mit dem eigenen Körper
und mit seiner Lebendigkeit
°
eine verbesserte Körperbewusstheit und Körperkon-
trolle hinsichtlich der Körperfunktion und Interaktion
°
eine verbesserte Integration der Körperlichkeit in das
Erleben und Erfahren des Selbst
°
ein deutlicheres Spüren der Eigenheit (ownership)
des Körpers
°
eine gesteigerte Akzeptanz gegenüber den senso-
motorischen (körperlichen), emotional-affektiven
und kognitiven Dimensionen.
Im vergleichenden Teil der Arbeit werden Gemeinsam-
keiten und Unterschiede von Achtsamkeit und Körper-
wahrnehmungsschulung aufgezeigt. Bestimmte Elemente
der Achtsamkeit sind der physiotherapeutischen Wahr-
nehmungsschulung immanent. Dazu gehört das be-
wusste Richten, Halten und Lösen (=Lenken) der
Aufmerksamkeit auf bestimmte körperliche Aspekte;
die Wichtigkeit des gegenwärtigen Moments (Hier &
Jetzt); die nicht wertende, annehmende und interessierte
Haltung dem Körper gegenüber. Es kann also gesagt
werden, dass Elemente der traditionellen Achtsamkeits-
praxis als Instrument in der Körperwahrnehmungs-
schulung eingesetzt werden.
In den Zielsetzungen finden sich wichtige Un-
terschiede. So hat traditionelle Achtsamkeit
eine geistige Entwicklung zum Ziel; der Körper
stellt dabei einen von vier Übungsbereichen
dar. Physiotherapeutische Wahrnehmungs-
schulung konzentriert sich bewusst auf den
körperlichen Bereich und strebt eine Entwick-
lung körperlicher Natur an. Dieser Prozess
wird sich auf psychische und soziale Aspekte
des Lebens auswirken. Auftretende Emotionen
werden wohl beachtet und bestätigt, aber es
findet im Rahmen der Physiotherapie keine
weitere Auseinandersetzung damit statt.
Es wird zur Diskussion gestellt, inwiefern Acht-
samkeit im Hinblick auf die therapeutische
Haltung im physiotherapeutischen Prozess von
Wert sein könnte. In der Phase der Problemi-
dentifikation werden neben dem fachlichen
Wissen auch das Wahrnehmungsraster, die
Aufmerksamkeit und die Präsenz des/der
TherapeutIn die Ergebnisse der Befundung prä-
gen. Die Therapieplanung und die Umsetzung
im Verlauf verlangen ebenso eine möglichst
aufmerksame und präsente Haltung, um flexi-
bel auf den/die PatientIn eingehen zu können.
Auch Achtung stellt im physiotherapeutischen
Prozess ein wichtiges Element dar. Es zählt zu
den Grundsätzen einer guten therapeutischen
Haltung, dem/der PatientIn wohlwollend-neu-
tral, unvoreingenommen und interessiert zu
begegnen. Dies wird auch im Berufsbild deut-
lich, das unter anderem »ein hohes Maß an
Empathie und Wertschätzung« (Physio Austria
2004, S. 13) fordert.
Es ist schließlich hervorzuheben, dass sich im
Prozess des Clinical Reasoning (CR) Elemente
der traditionellen Achtsamkeitspraxis finden.
Dazu zählen das Innehalten (Pausieren,
reflection in action), das reine Beobachten,
die Wissensklarheit und die Frage nach dem
Zweck (reflection on action) sowie die reflexive
Dimension der Achtsamkeit (im CR vergleich-
bar mit Metakognition, der Erforschung der
eigenen Organisation des klinischen Wissens).
(vgl. Jones & Rivett, S. 8ff.)
Achtsamkeit wird in dieser Arbeit hauptsäch-
lich aus Sicht der buddhistischen Literatur
erklärt, da hier eine stringente Theorie vorliegt.
Es gibt allerdings unzählige und verschieden-
artige Türen zur Achtsamkeit. Einige sind kon-
zeptgebunden, andere frei zugänglich. Die
Körperwahrnehmungsschulung mag ebenso
wie fernöstliche Konzepte, Felsklettern, ein
Spaziergang im Wald, oder vielleicht auch
eine allzu gewöhnliche U-Bahn-Fahrt eine
dieser Türen sein.
Wichtig erscheint mir jedenfalls, dass Physio-
therapeutInnen vermehrt Achtsamkeit prakti-
zieren lernen. Einerseits als innere Ressource,
um den Anforderungen des Berufslebens
besser gewachsen zu sein, und andererseits
als berufliche Kompetenz. Eine achtsam-mit-
fühlende Haltung wird sich im physiotherapeu-
tischen Prozess auf alle Teilnehmenden
heilsam auswirken.
1
Altner N. (2006):
Achtsamkeit und Gesund-
heit. Auf dem Weg zu einer
achtsamen Pädagogik.
Prolog Verlag,
Immenhausen.
2
Gottschlich M. (2007):
Medizin und Mitgefühl.
Die heilsame Kraft empa-
thischer Kommunikation.
Böhlau, Wien.
3
Grossman P., Niemann L.,
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(2004): Mindfulness-based
stress reduction and health
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Journal of Psychosomatic
Research 57, S. 35–43.
4
Jones MA. & Rivett DA.
(2006): Einführung in das
Clinical Reasoning. In:
Jones MA. & Rivett DA.
(Hrsg.): Clinical Reasoning
in der Manuellen Therapie.
Elsevier/Urban & Fischer,
München.
5
Kabat-Zinn J. (2003):
Mindfulness-Based
Interventions in Context:
Past, Present, and Future.
Clinical Psychology: Sci-
ence and Practice 10 (2),
S. 144–156.
6
Nyanaponika (1950):
Satipatthana. Der Heilsweg
buddhistischer Geistes-
schulung. Christiani,
Konstanz.
7
Ott U. (2010): Meditation
für Skeptiker. O. W. Barth,
Frankfurt a. M.
8
Physio Austria (Hrsg.)
(2004): Berufsprofil
der/des Diplomierten
Physiotherapeutin/Physio-
therapeuten. Fachzeit-
schrift Physiotherapie
1a/2004.
9
Shapiro SL., Carlson LE.,
Astin JA. & Freedman B.
(2006): Mechanisms of
Mindfulness. Journal of
Clinical Psychology 62 (3),
S. 373–386.