Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper stellt
eine essentielle Fähigkeit der Fach- und Selbstkompe-
tenz für PhysiotherapeutInnen dar. Die Eigenerfahrung
bildet neben dem Fachwissen die Voraussetzung, um an-
dere Personen bei der Arbeit mit dem Körper anzuleiten
und zu fördern. Dies basiert einerseits auf der Fähigkeit,
mit dem eigenen Körper in Kontakt zu sein, als Voraus-
setzung für Empathie, und andererseits auf der Fertigkeit,
körperliche Gegebenheiten bei einer anderen Person
wahrnehmen zu können. Den eigenen Körper zu spüren
und dabei gleichzeitig einen bestimmten körperlichen
Zustand bewusst einnehmen zu können machen es
möglich, die therapeutische Haltung in der TherapeutIn-
nen-PatientInnen-Beziehung gezielt zu gestalten und
einzusetzen. Die therapeutische Haltung schließt sowohl
die innere (Einstellung, Gefühle, Werte) als auch die
äußere Haltung (ökonomischer Einsatz des eigenen
Körpers) mit ein und sie beeinflussen sich gegenseitig.
Die Lehrveranstaltung mit immanentem Prüfungscharak-
ter findet im 1. Semester der Bachelorausbildung statt
und umfasst 27 Unterrichtseinheiten im direkten Kontakt
mit den Studierenden in Kleingruppen zu je 12 bis 14
Personen. Um den Lernprozess zu optimieren, wird
didaktisch darauf geachtet, die Lehrveranstaltung mög-
lichst gleichmäßig auf das gesamte Semester zu vertei-
len. Die Methodik bei der Umsetzung zielt darauf ab,
die Inhalte zunächst rein praktisch zu vermitteln. Dabei
wird den Studierenden ermöglicht, in zwölf Unterrichts-
sequenzen die physiotherapeutische Umsetzung
spezifischer Inhalte als TeilnehmerInnen eines Gruppen-
angebots zu erfahren und zu erleben. Insgesamt durch-
laufen sie dabei zwölf inhaltlich aufeinander abgestimmte
und relevante Themen. Zu jedem Themenbereich ist ein
„Stundenbild“ entwickelt worden, das einer klaren Struk-
tur und aufeinander aufbauenden Inhalten folgt. Senso-
motorische Entwicklungsphasen wie das einfache und
sichere Bewegen auf dem haltgebenden Boden, die
schrittweise Aufrichtung zum komplexen Gehen und die
achtsame Auseinandersetzung mit der eigenen Balance
im Wechselspiel zwischen Körper und Schwerkraft in
den alltäglichen Positionen Sitzen und Stehen werden
in den »Stundenbildern« umgesetzt.
Das Wahrnehmen und individuelle Erleben der Empfin-
dungen und Spürerfahrungen mit dem eigenen Körper
und auch die emotionale Beteiligung am Geschehen in
der Gruppe werden am Ende jeder Unterrichtssequenz
mündlich ausgetauscht. Im Rahmen des Selbststudiums
reflektieren die Studierenden unter Aspekten beruflicher
Entwicklung jedes Angebot schriftlich. Inhalte zur per-
sönlichen Weiterentwicklung werden in Form eines Lern-
journals während des gesamten Semesters festgehalten.
Als weitere Reflexionsmöglichkeit lernen die Studieren-
den das Zeichnen von Körperbildern als nonverbales
Ausdrucksmittel kennen. Anhand einer klar formulierten
Aufgabenstellung kann nach einem physiotherapeutischen
Angebot das körperliche Befinden bildhaft ausgedrückt
werden. Zusätzlich machen sich die Studierenden zu gängi-
gen Konzepten wie etwa der Feldenkrais-Methode, der
Body Awareness Therapie, der Sensorischen Integration
und der Basalen Stimulation bezüglich Einsatz und Anwen-
dung der Wahrnehmungs- und Haltungsschulung auf dem
Gebiet der Physiotherapie vertraut.
Ziele der Wahrnehmungs- und Haltungsschulung sind die
Förderung der Eigenwahrnehmung in Bezug auf körper-
liche Empfindungen und damit verbundenen unterschiedli-
chen Qualitäten. Der erste Schritt dahin ist, die Studieren-
den Aufmerksamkeit für den eigenen Körper zu lehren.
Diese Aufmerksamkeit bildet die Basis für einen differen-
zierten Zugang zur Vielfalt der sensomotorischen Qualitä-
ten im eigenen Körper und ermöglicht ein Lokalisieren
und Erkennen der Sinneswahrnehmungen. Im physiothera-
peutischen Kontext ist diese Fähigkeit und Fertigkeit die
Voraussetzung, um PatientInnen und KlientInnen beim
eigenen Lernprozess in Bezug auf Körper und Bewegung
zu unterstützen. Das Benennen und Unterscheiden viel-
fältiger Empfindungsqualitäten stellt den zweiten Schritt
dar. Dabei wird darauf geachtet, nicht wertend und offen
die eigenen Wahrnehmungen zu beschreiben.
Beim Wahrnehmungsangebot wird den Studierenden er-
möglicht, den eigenen Körper in seiner Ganzheit, in seinen
Strukturen und in seiner Form sowohl in Ruhe als auch in
Bewegung im Hier und Jetzt zu spüren und zu empfinden.
Interesse und Neugierde für den eigenen Körper werden
entweder direkt ohne Materialien und Therapiegeräte oder
indirekt unter Verwendung dieser in Einzelarbeit, paarweise
und in Gruppenarbeit geweckt und gefördert. Spiel und
Spaß regen dabei die soziale Interaktion und den gruppen-
dynamischen Prozess an. Neben der Schulung der sensori-
schen Differenziertheit mit Schwerpunkt auf den Nahsinnen
wird ebenso die Aufmerksamkeit auf Gegebenheit und Aus-
wirkung von Ausdauer, Kraft, Koordination, Beweglichkeit
und Schnelligkeit (motorische Grundeigenschaften) ge-
lenkt. Große Bedeutung wird dabei der Stimulation und
dem Erleben des Atemflusses und der Förderung der
Wachheit beigemessen.
Dadurch kann sich die/der Übende in ihren/seinen Eigen-
heiten mit Wertschätzung selbst erfahren und sich so
ihren/seinen Körper vertraut und zu eigen machen. Dabei
entwickelt sich die/der Übende zur/zum ExpertIn für
ihren/seinen Körper, ihre/seine Körperlichkeit und eigene
Lebendigkeit. Diese Erfahrungen führen zu einer individuel-
len Entwicklung des Körperbewusstseins. Ein differenzier-
tes Körperbewusstsein bildet die Basis für ein
verantwortungsvolles Selbstbewusstsein. Eine Person,
die offen ist für die Entfaltung des eigenen Körperbewusst-
seins, gilt als selbst-bewusst im Sinne von »im Handeln
und Sein selbst wählen zu können«.
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physio
austria
inform
April 2013
Die Fähigkeit, sich selbst und seinen eigenen Körper wahrnehmen zu
können, ist nahezu unverzichtbar für die Arbeit als PhysiotherapeutIn,
hilft sie doch, sich in die PatientInnen hineinzuversetzen und richtig
zu behandeln. Eine Lehrveranstaltung an der Fachhochschule Campus
Wien soll die Sensibilität dafür schulen.
Für das Fühlen fit gemacht
Themenschwerpunkt
Körper und Psyche
Wahrnehmungs- und Haltungsschulung
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