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Dezember 2013
Laut einer Studie von Thubert et al (2012), leiden 1% der
Frauen an »Persistent Genital Arousal Disorder« (PGAD).
Die Dunkelziffer ist vermutlich höher, weil Patientinnen
nicht wissen, wer ihnen helfen kann – selbst viele Urolo-
gInnenen/GynäkologInnen haben noch nie von diesem
Syndrom gehört. Diese Erkrankung ist auch bekannt als
»persistierendes sexuelles Erregungssyndrom« (Resistent
Sexual Arousal Syndrome=PSAS), oder »Female Sexual
Arousal Disorder (FSAD)«. Das durchschnittliche Alter
der Betroffenen liegt zwischen 35 und 54 Jahren. Das
von Leiblum und Nathan (2001) erstmalig beschriebene
Syndrom zeigt sich in einer ungewollten, persistierenden
Erregung in der Genitalregion. Thubert et al (2012) fanden
in einer systematischen Durchsuchung von 300 Artikeln
37, die sich mit PGAD befassten. 67 Prozent der
Betroffenen litten gleichzeitig an einer überaktiven Blase,
bei 67% bestand ein Restless Legs Syndrom und 55%
hatten Varizen im Becken.
Die Patienteinnenwurden vor allem mit Medikamenten
behandelt, allerdings oft erfolglos, manche erhielten
zusätzlich psychologische oder kognitive Verhaltensbe-
handlung (Brotto et al 2010, Carvalho J., Verissimo A.,
Nobre P.J. 2013). In einer Studie von Leiblum S.R. und
Seehuus M. (2009) gab es keine Beweise, dass die Be-
troffenen hypersexuell waren. Die Ursache für PGAD ist
bisher unbekannt. Physiotherapeutische Behandlung wird
selten verordnet. Es gibt keine evidenzbasierten Studien,
alle Behandlungen von ÄrztInnen beruhen auf empiri-
schem Wissen.
Im Folgenden wird die physiotherapeutische Behandlung
einer 23jährigen Studentin beschrieben, die von der
schwersten Form des PGAD (Leiblum und Chivers 2007)
betroffen war und drei Monate lang erfolglos von einer
Expertin für sexuelle Störungen und einem Neurologen
behandelt worden war. Sie litt seit November 2012 unter
ständiger ungewollter intensiver genitaler Erregung, so-
bald sich ihre Oberschenkel berührten. Sie konnte im
Auto sitzend keine Vibration des Autos vertragen, ohne
starkes Pulsieren in der Scheide zu haben und sie hatte
Mühe sich beim Studium zu konzentrieren. Die Patientin
war unglücklich über diese anhaltenden Symptome, sie
konnte nicht auf der Seite schlafen und nur breitbeinig
sitzen und gehen.
Unwissenheit, Unverständnis und Scham prägen
oft die Reaktion gegenüber Patientinnen, die unter
dem persistierenden sexuellen Erregungssyndrom
leiden. Die Physiotherapie kann bei dieser noch
nahezu unbekannten Erkrankung, die die Lebens-
qualität massiv stört, helfen.
Erregung als Störfaktor
Nach Angabe der Patientin wurden ihr folgende Medika-
mente ärztlich verordnet: Prozac, Sudafed, Skellaxin,
Voltaren gel, Flector patches, Lyrica, Neurontin (gaba-
pentin), Medrol Dosepack-zweimal und schließlich Botox
Injektionen in die Musculi Piriformis, Obturator Internus
Muskeln, und ins Impar Ganglion (oder Ganglion Impar).
Sie bekam drei Injektionen in das rechte und zwei in
das linke Gesäß, leider ohne Erfolg (danach Cipro,
Naproxen, und Valtrex).
Physiotherapeutische Behandlung
ANAMNESE
Die Patientin erzählte, dass sie schon als Kind über-
sensibel war und sich nicht gerne anfassen ließ. Sie hatte
manchmal Angstattacken, im Frühjahr 2012 einen genita-
len Herpes, der geheilt war, sonst war sie gesund. Sie
wurde nie missbraucht. Es war ihr peinlich, über das
Problem zu sprechen, von dem sie betroffen war und
das so unbekannt war.
ZIEL DER BEHANDLUNG
Alle betroffenen Systeme des Körpers in einen best-
möglichen Zustand zu bringen und der Patientin zu
zeigen, wie sie sich selbst helfen kann (»empower«).
BETROFFENE SYSTEME DER PATIENTIN
°
Limbisches System
°
Furcht und Frustration, Angst
°
Autonomes Nervensystem (ANS)
Sympathisch getrieben, dysreguliert.
Die Patientin konnte nicht gut schlafen,
hatte Schmerzen, hatte Verspannungen,
einschließlich in der Beckenbodenmuskulatur.
°
Sensorisches System
Hyperaktiv, stark berührungsempfindlich,
die Berührung ihre Oberschenkel löste unangenehme
Erregung und Pochen in der Scheide aus.
Vibrationen (beim Autofahren) waren besonders
unangenehm.
Themenschwerpunkt
Becken