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physio
austria
inform
Dezember 2013
Themenschwerpunkt
Becken
Die Beschäftigung mit dem Becken und seiner Funktion
von Ausscheidung und Sexualität ist nach wie vor in wei-
ten Kreisen ein Tabuthema. Dies betrifft aber nicht nur
die Masse der Bevölkerung, sondern auch die medizini-
sche Welt. Die Physiotherapie hat mittlerweile einen wis-
senschaftlich gesicherten Stand auf dem Gebiet der
Arbeit im kleinen Becken: bei Belastungsinkontinenz ist
sie in den Leitlinien von Fachverbänden als Methode mit
Empfehlungsgrad A und Evidenzklasse 1A Standard
verankert. Heuer wurde der Physiotherapie von der Inter-
national Incontinence Society das gleiche Level in der
Behandlung von Organsenkungen im kleinen Becken
zugesprochen. Für GynäkologInnen, ProktologInnen und
UrologInnen heißt das, dass jede Maßnahme ohne 1A-
Level, die bei Inkontinenz oder Senkungsbeschwerden
vorgeschlagen wird, ohne vorherigen Versuch einer
physiotherapeutischen Intervention, entgegen der evi-
denzbasierten Leitlinien vorgenommen wird.
Der weibliche Beckenboden in der Prävention
Es ist bekannt, dass es diverse Risikofaktoren gibt,
die bei der Frau zur Entstehung von Symptomen im
Beckenbereich führen können. Gesichert sind: Geburten,
Adipositas, Alterungsprozesse – sie erhöhen die Gefahr
im Laufe des Lebens Kontinenz- und Senkungsbeschwer-
den oder Schmerzsyndrome zu entwickeln.
Aufgrund der weiblichen Anatomie – die im Unterschied
zum Mann die Möglichkeit eröffnen muss, ein Baby durch
das Becken hindurch in die Außenwelt zu entlassen –
ist ein gehöriges Maß an Flexibilität gefordert. Im Laufe
des Lebens kann es zu flexibel werden – mit allen ent-
sprechenden Beschwerden. Präventives Training wäh-
rend und nach der Schwangerschaft hat gezeigt, dass
es wirksam solchen Spätfolgen entgegenwirken kann.
Und beim Mann?
Die Gefahr eine Belastungsinkontinenz zu entwickeln hat
der Mann nur in Folge eines Traumas: bei Riss-, Schnitt-,
Stichverletzungen oder auch in Folge von Beckenring-
frakturen kann es zu Störungen des Schließmuskelsys-
tems kommen. Das häufigste Trauma, das zu einer
Belastungsinkontinenz des Mannes führt, ist jedoch ia-
trogen: Die Verletzung des Harnröhrensphinkters auf-
grund von Prostataoperationen oder –bestrahlungen.
Deshalb ist präventives Beckenbodenmuskel-Training zur
Vermeidung von Schließmuskeldefiziten beim Mann nicht
wirklich sinnvoll. Es wäre vergleichbar mit der Empfeh-
lung eines präventiven Quadricepstrainings, da man in
ungewisser Zukunft unter Umständen einmal eine Menis-
cus-OP haben könnte.
Ganz anders allerdings stellt sich die Lage in Bezug auf
ein präoperatives Trainings bei geplanter Prostataentfer-
nung dar: hier im Vorfeld aktiv zu sein, bringt dem Mann
sehr viel. Schon allein das Kennenlernen und gezielte An-
steuern der Beckenbodenmuskeln hilft den Betroffenen
in der postoperativen Situation. Allerdings handelt es
sich hierbei natürlich nicht um Prävention, sondern ist
Teil eines – noch viel zu wenig etablierten - interdiszipli-
nären Behandlungskonzeptes um postoperativ schneller
und effektiver das Training aufnehmen zu können.
Andere Gründe für eine Beckenboden-Prävention
des Mannes?
Neben der Belastungsinkontinenz, die auf Trauma zurück-
geht, kann der, vorwiegend ältere, Mann auch eine über-
aktive Blase entwickeln. Auch hier kann es zu Inkontinenz
kommen, wenn es nicht gelingt, den »zu stürmischen«
Blasenmuskel zu bändigen. Dies ist mögliche Folge einer
neurologischen Erkrankung (wie bei MS, M. Parkinson
u.v.m.). Aber auch die Prostata kann Ursache sein: eine
gutartige Vergrößerung, die zu einem Engpass in der
Urethra und daraufhin langfristig zu einem überaktiven
Blasenmuskel führt. Ein Krafttraining der Beckenboden-
muskulatur hilft hier nicht und kann der Symptomatik
auch nicht vorbeugen. Wobei natürlich Muskeltraining
immer zur Verbesserung der Zirkulation (Blut und Lym-
phe) und damit auch zur Optimierung des allgemeinen
Gewebezustands in der Region führt. Ob dies einer
möglichen benignen Prostatahypertrophie entgegenwirkt,
ist jedoch nicht bekannt.
Der kleine Unterschied!
Beckenbodenprävention für den Mann?
Beckenbodentraining ist im Allgemeinen weiblich konnotiert.
Zu Unrecht, wie die Physiotherapie zeigt.