Eva Müllauer
Physiotherapeutin, Lektorin an
der FH Salzburg (Physiothera-
pie in der Palliativmedizin) und
FH Campus Wien (Respiratori-
sche Physiotherapie), Physio-
therapeutin an der Abteilung
für Atmungs- und Lungener-
krankungen im KH Hietzing
mit Neurologischem Zentrum
Rosenhügel, Stellvertretende
Leiterin der Fachgruppe Phy-
siotherapie in Palliative Care
und Hospizwesen Physio Aus-
tria, Mitglied der WCPT sub-
group oncology, palliative
care and AIDS/HIV
Rainer Simader, PT
ist Lehrbeauftragter für Physio-
therapie and der FH Ober-
österreich, Wien und der
Donauuniversität Krems,
ehemaliger senior physio-
therapist St. Christophers
Hospice London. Er ist Leiter
der Fachgruppe Palliative Care
und Hospizwesen bei Physio-
austria. Zudem ist er Tanz- und
Ausdruckstherapeut und Pro-
grammverantwortlicher Akqui-
sistion Editor (Physiotherapie)
beim Elsevier, Urban und
Fischer Verlag München.
physio
austria
inform
April 2012
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Sich dem Thema Schmerz
am Ende des Lebens anzu-
nähern bedeutet zum
ersten zu definieren, was
unter Lebensende im
Kontext dieses Artikels ver-
standen wird. Gemeint ist
hier die Phase im Leben,
in der ein Mensch, der an
einer lebenszeitbegrenzen-
den und nicht kurativ zu behandelnden Erkrankung leidet,
Schmerzsymptome verspürt. Zeitlich betrachtet, kann
dies die tatsächliche terminale Phase (die letzten 12 –
72 Stunden) des Lebens aber auch Wochen, Monate
oder Jahre sein. Die individuelle Erkrankung bzw. deren
Verlauf ist dafür Ausschlag gebend. Die Grundlagen die-
ses Artikels sind dem Gedankengut von Palliative Care
entnommen.
Schmerzen sind bei gewissen Erkrankungen im palliati-
ven Stadium ein vorrangiges Thema. Betrachtet man in
etwa die zweithäufigste Todesursache, Krebs (Statistik
Austria 2010), so zeigen die Zahlen, dass bei Diagnose-
stellung in etwa 43% aller Patienten an Schmerzen leiden
und in der letzten Lebensphase dieses Symptom bei
etwa 80% aller Patienten besteht und behandelt werden
muss. Im Vordergrund hierbei stehen tumorbedingte
Schmerzen (60-90%), aber auch tumorassoziierte (5-
20%), tumortherapiebedingte (10-25%) und tumorunab-
hängig Schmerzen (3-10%) (Pilgram 2009) haben eine
Bedeutung. Bei anderen Erkrankungen gibt es dazu weni-
ger aussagekräftige Zahlen. Betrachtet man allerdings
eine noch viel größere Gruppe an Menschen, diejenigen,
die aufgrund sehr hohen Alters das Ende des Lebens
erreichen, so wird angesichts der Multimorbidität und
individueller Faktoren klar, dass ca. 80% aller Pflegeheim-
bewohner chronische Schmerzen aufweisen (Kunz et
al 2009).
Was ist Schmerz eigentlich?
Neben der gängigen Definition (siehe Seite xxx) müssen
angesichts von wirklich lebensverändernden, in diesem
Falle lebensbeendenden Umständen auch andere As-
pekte berücksichtigt werden. So ist »Schmerz niemals
nur eine Sache der Nerven und Neurotransmitter, son-
dern immer eine persönlich und kulturelle Sinneserfah-
rung« (Pilgram 2009). Die besondere Intensität des
Schmerzes lässt sich aber auch damit begründen,
dass Schmerzen auf die Vergänglichkeit menschlichen
Daseins verweisen und dadurch existenzbedrohend
werden. Der unbewusste Umkehrschluss könnte sein,
dass sich ein terminaler Patient über seine Schmerzen
(noch) lebendig fühlt.
Sterben ist ein Vorgang, an den wir uns immer nur auf
einer theoretischen und zuhörenden Ebene annähern
können. Aus Mangel an lebenden Experten können wir
nur annehmen, wie Schmerz in dieser Lebensphase tat-
sächlich erlebt wird. Schmerz hat viele Gesichter. Cicely
Saunders, die Begründerin des modernen Hospizwesens,
die immer sowohl die Patientenbehandlung, als auch
wissenschaftliche Untersuchung vom Lebensende als un-
abdingbar nebeneinander gestellt hat, hat ein heute weit-
verbreitetes und sinnvolles Modell entwickelt, welches für
das Verständnis von Schmerz hilfreich ist: Das »Total Pain«-
Konzept (Saunders 1963).
Körperliche, psychische, soziale und spirituelle Aspekte im
Kontext Schmerz sind sowohl auf der efferenten, als auch
auf der afferenten Ebene (um dies mit physiologischen Be-
griffen zu beschreiben) zu finden. So kann beispielsweise
körperlich erlebter Schmerz emotional, und emotional er-
lebter Schmerz körperlich ausgedrückt werden. Meist ist
dies aber vielschichtig und das genaue Hinterfragen, was
dieser Schmerz vielleicht sonst noch ausdrücken könnte
und was ein Schmerz für einen Menschen bedeutet ist
eine Schlüsselfähigkeit aller Berufsgruppen des multidis-
ziplinären Teams. Einige Beispiele sollen helfen, die Er-
fahrungen von schwerstkranken Menschen zu verstehen:
Einsamkeit ist angesichts des drohenden Verlustes von
Angehörigen, Freunden, lieb gewonnenem und des Lebens
an sich, eine sehr belastende Erfahrung. Nachts, wenn
niemand Vertrauter anwesend ist, ist oftmals der Ausdruck
von Schmerz eine (unbewusste) Möglichkeit, Zuwendung
zu bekommen; in Form von Medikamenten aber auch in
Form von Kontakt. »Starke« Männer beispielsweise äußern
aufgrund von limitierten, weil selten erlernten emotionalen
Ausdrucksweisen, öfter Schmerz, meinen aber Angst.
Schmerz kann auch für die Scham stehen, die ich ver-
spüre, wenn ich mich als früher immer selbstständiger
Mensch nun in einer Abhängigkeit und Unbeweglichkeit
befinde. Das kann ebenso schmerzen wie das Hadern
mit Gott oder der Welt. Der Ausdruck dieses Schmerzes
kann auf sehr unterschiedlichen Ebenen auch auf der
körperlichen geschehen.
Wie kann Schmerz am Ende des Lebens untersucht
werden?
Die Quantifizierung erfolgt wie in nicht palliativen Berei-
chen. Die visuelle Analogskala dient hier als verlässliches
Instrument (Turk 1993). Und die Schmerzanamnese, die
nach Ort, Art, Qualität, Schmerzverhalten etc. fragt, gibt
zudem wichtige qualitative Informationen. Berücksichtigt
man allerdings die besonderen »Lebensumstände« von in
absehbarer Zeit versterbenden Menschen, so sollten in der
Schmerzanamnese aber auch soziale, emotionale und spi-
rituelle Zusammenhänge zwischen Schmerz und Person in
den Gesprächen nicht fehlen. Die Symptomatik ist oft auch
nicht eindeutig, denn auch emotionale oder etwa soziale
Aspekte habe ein spezifisches »24-Stunden-Verhalten«.
Um der Dimension eines »Lebensschmerzes« gerecht zu
werden, bleibt uns also nichts anderes übrig, als genau
hin- und zuzuhören. Und dies nicht nur einmal, sondern
immer. Interessanterweise ist vor allem das empathische
und wirklich interessiere Auseinandersetzen, während
dessen der Patient seinen Schmerz besser »kennen ler-
nen« und differenzieren kann, oftmals die erste Linderung.
Alle Assessments und Beantwortung von differenzierten
Fragen erfordern allerdings weitgehend intakte kognitive
Funktionen des Patienten. Was aber, wenn Menschen,
die am Lebensende stehen, eingeschränkte sprachlich-
kognitive Fähigkeiten haben?
Schmerz am Lebensende
Fremdeinschätzungsskalen helfen in diesen Situationen
und erfordern wiederrum ein gemaues Hinsehen und
Zuhören. Die Pain Assessment Checklist for Seniors
with Limited Ability to Communicate (PACSLAC, Fuchs-
Lacelle und Hadjistavropoulos 2004) wird zur Schmerz-
überprüfung von Menschen mit fortgeschrittener De-
menz eingesetzt. Sie ist eine Checkliste, die sehr diffe-
renziert Gesichtsausdruck, Aktivität/Körperbewegungen
und Ausdruck des sozialen, persönlichen und emotio-
nellen Verhaltens beschreibt. Der Beobachter erhält so
einen Gesamtwert, als auch Werte zu den einzelnen
Subgruppen. Die unterschiedlichen Beobachtungen
geben einerseits Feedback während der direkten Arbeit
mit dem Betroffenen und zeigen auch die Ergebnisse
eines Behandlungsverlaufes.
Ein zweites sehr einfach zu verwendendes Schmerzerfas-
sungstool ist die kindliche Unbehagens- und Schmerz-
skala (KUSS, Büttner 1998) bei schwerkranken Kindern.
Die KUS-Skala wurde eigentlich zur Symptomerfassung
bei Kindern bis zum 4. Lebensjahr nach Operationen ent-
wickelt, kann aber auch bei auch bei älteren, nicht kom-
munikationsfähigen Kindern gut angewendet werden.
Auch sie bewertet emotionales und motorisches Verhal-
ten und analysiert die Bereiche Weinen Gesichtsaus-
druck, Rumpfhaltung, Einhaltung und motorische Unruhe.
Ab einer gewissen Punkteanzahl ist Handlungsbedarf.
Cicely Saunders Zielformulierung für multiprofessionelle
Begleitung von schwerkranken und strebenden Men-
schen muss auch beim Schmerz-Assessment und auch
der Schmerzbehandlung nachhaltig eine Rolle spielen:
»All the work of the professional team ... is to enable the
dying person to live until he dies, at his own maximal po-
tential performing to the limit of his physical and mental
capacity with control and independence whenever possi-
ble« (Saunders 1998). So ist es im palliativen Kontext wie
beim chronischen Schmerzmanagement nicht ausrei-
chend, nur den Symptomen auf die Spur zu gehen. Da
das Ziel auf dem Aktivitätszugewinn liegt, ist auch das
ressourcenorientierte Assessment von Funktionen, die
mit dem Schmerz in Zusammenhang stehen, entschei-
dend. Eine hilfreiche Einstellung ist, dass auch Menschen
am Lebensende trotz der sicheren Zukunft und trotz mul-
tifaktoriellem Leid das Bedürfnis nach Aktivität, Leistung
und Partizipation haben. Da Schmerz multifaktoriell ist
liegt hierin gleichsam auch eine Chance. Patienten (und
Therapeuten) sind immer wieder überrascht, was trotz
Schmerz möglich ist.
Schmerzbehandlung am Lebensende
Multifaktorielles Schmerzerleben und multidimensionaler
Schmerzausdruck brauchen die Behandlung von mehre-
ren Teammitgliedern. Aus dem Assessment kann hervor-
gehen, dass der Physiotherapeut eine wesentliche Rolle
einnehmen muss. Es kann aber auch der Psychologe,
der Seelsorger, der Arzt oder der Besuchsdienst sein.
Fast immer aber mehrere Personen in engem Austausch
miteinander. Physiotherapeutische Interventionen bei
Schmerz können auf einer strukturellen Ebene je nach
Ursache z.B. Mobilisation von Gelenken, Massagen, Ko-
lonmassagen (z.B. bei Schmerz durch Obstipationen oder
Blähungen), TENS, Wärme- oder Kryotherapie sein (Pan
et al 2000). Um noch einmal auf C. Saunders Zitat zurück
zu kommen sind all jene Maßnahmen vorzuziehen, die
der Patient im besten Falle auch alleine durchführen
kann. Zumindest sollte jede Intervention auch mit einer
Empfehlung einhergehen, wie der Patient auch selbst
eine Maßnahme, wenn auch in abgewandelter Form
durchführen kann (z.B. elektrisches Heiz-
polster als Wärmeapplikation etc.). Auf der
Aktivitätsebene haben Physiotherapeuten
eine besonders wichtige Rolle und einzigar-
tige Fähigkeiten innerhalb eines multipro-
fessionellen Behandlungsteams. Oft sind
Patienten durch Erkrankungen, Therapien
und auch Schmerzen lange Zeit in der
Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und »de-
konditioniert«. Wenn durch medikamentöse
oder auch andere Schmerztherapie das
Symptom reduziert ist, brauchen Patienten
dennoch professionelle Hilfe beim bestmög-
lichen Umsetzen der neuen Lebensqualität
in den Alltag. Je nach Zustand des Patienten
können dies Kraft- und Ausdauertraining im
Einzel- und Gruppensetting oder etwa das
Training von Alltagstätigkeiten sein. Der
Fokus ist auf das richtige »Pacing« zu legen
– also die Verrichtung von Alltagsaktivitäten
oder Training unter optimaler Verwendung
der vorhandenen Energiereserven und unter
richtiger Einschätzung des Schmerzes.
Gelingt es, das Symptom Schmerz zu lin-
dern und zu kontrollieren und die Aktivitä-
ten am Lebensende zu fördern, kann der
Patient im Rahmen seiner Möglichkeiten
wieder am Leben teilhaben. Bei hochbetag-
ten, dementen Patienten mag sich das da-
durch zeigen, dass sie wieder schmerzfrei
scheinbar auf den Gängen »herumirren«
anstatt ruhig in einer Ecke zu sitzen. Der
kognitiv nicht beeinträchtigte Krebspatient
wiederum wird sich an Veranstaltungen im
Hospiz beteiligen oder mit seiner Familie
und Freunden das Patientencafé besuchen.
Partizipation am normalen Leben wird für
sie wieder zur Normalität gehören.
SCHMERZ IM ALTER
Rainer Simader, PT/Eva Müllauer, PT
Themenschwerpunkt
Schmerz
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physio
austria
inform
April 2012
LITERATUR
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