physio
austria
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April 2012
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April 2012
Themenschwerpunkt
Schmerz
Zur Behandlung der verschiedenartigen Symptome des komplexen
regionalen Schmerzsyndroms wurde die noch neue Spiegeltherapie
eingesetzt – mit vielversprechenden Ergebnissen.
Hintergrund
Das Krankheitsbild des komplexen chroni-
schen Schmerzsyndroms Typ I ist ein noch
größtenteils nicht verstandener Komplex von
unterschiedlichen Symptomen wie Schmer-
zen, Ödeme, Hautveränderungen sowie mo-
torischen und sensorischen
Einschränkungen (Bruehl, 2010; Harden et
al., 2007). Diese Symptome entstehen in un-
terschiedlicher Ausprägung nach Traumen
der Extremitäten und in seltenen Fällen
spontan (Treede et al., 2008). Zahlen zur
Prävalenz und Inzidenz liegen für Deutsch-
land gegenwärtig nicht vor. Mos et al. (2007)
geben für die Niederlande eine Inzidenz von
26,2/100.000/Jahr an.
Die Ätiologie (Ursache) des CRPS ist noch
ungeklärt, es werden aber drei sich unter
Umständen auch ergänzende, pathophysio-
logische Konzepte diskutiert:
°
Die neurogen getriggerte
Entzündungsreaktion
°
Sympathisch afferente Kopplung
°
Kortikale maladaptive Reorganisation
(Maihofner & Birklein, 2007)
Die nachgewiesenen kortikalen Veränderun-
gen bei PatientInnen mit CRPS (Maihöfner,
Forster, Birklein, Neundörfer, & Handwerker,
2005; Pleger et al., 2004) bilden die Grund-
lage zur Anwendung kognitiver Therapiean-
sätze wie Graded Motor Imagery (GMI)
(Moseley, 2004; Moseley, 2005) und allei-
nige Spiegeltherapie (Cacchio et al., 2009;
McCabe et al., 2003) zur Behandlung
der Schmerzsymptomatiken bei CRPS Pa-
tientInnen.
Spiegeltherapie und GMI
(Graded Motor Imagery)
Die Spiegeltherapie ist ein relativ neues,
nicht invasives Therapieverfahren zur Be-
handlung neuropathischer Pathologien mit
Deafferenzierungssymptomatiken. Mitte der
neunziger Jahre wurde diese Therapieform
erstmalig von Ramachandran beschrieben
(Ramachandran, Rogers-Ramachandran, &
Cobb, 1995). Der/die PatientIn sieht ein
Spiegelbild der gesunden Extremität, das
er/sie anstelle der erkrankten oder der nicht
mehr vorhandenen Extremität wahrnimmt.
Den theoretischen Hintergrund bilden Stu-
dien zu kortikalen, plastiziden Veränderun-
gen von Gehirnstrukturen bei chronischen
Schmerzzuständen (Borsook et al., 1998;
Diers et al., 2010; Flor et al., 1995). Die potenziellen Wir-
kungsmechanismen der Spiegeltherapie sind noch un-
bekannt. In der Literatur werden verschiedene
Erklärungsmöglichkeiten wie eine gezielte Aktivierung
von Spiegelneuronen in motorischen Kortexbereichen,
eine Beeinflussung der maladaptiven neuroplastischen
Veränderungen und positive Effekte auf Kinesiophobien
diskutiert (Ramachandran & Altschuler, 2009).
In der Vergangenheit wurde die Spiegeltherapie bei ver-
schiedenen Pathologien mit Deafferenzierungssympto-
matiken wie Schlaganfall (Eric Lewin Altschuler et al.,
1999), Phantomschmerz (Chan et al., 2007) und CRPS
(Cacchio et al., 2009; Johnson et al., 2012; McCabe et
al., 2003; Moseley, 2004; Tichelaar et al., 2007) in Stu-
dien untersucht. Einen Überblick über die Effektivität der
Therapie und ihre klinische Bedeutung gibt die Über-
sichtsarbeit von Rothgangel et al (2011).
Im klinischen Alltag bekommt der/die PatientIn einen
Spiegel mit nach Hause und übt verschiedene individuell
angepasste motorische Hand- oder Fußfunktionen, je
nach Möglichkeit uni- oder bilateral. Die Progression der
Bewegungen soll zu alltagsrelevanten Bewegungen,
auch mit Hilfe von Gegenständen, hinführen (zum Bei-
spiel Greifen eines Bechers). Alle Progressionen orien-
tieren sich an der schmerzfreien Ausführung sowohl der
uni- als auch der bilateralen Bewegungen.
McCabe et al. (2003) untersuchten die Spiegeltherapie
an acht PatientInnen mit CRPS Typ I in einer Placebo-
kontrollierten Pilotstudie. In dieser Studie konnte nur bei
PatientInnen im akuten Stadium (n=4) eine deutliche
Schmerzreduktion beobachtet werden. Die PatientInnen
im chronischen Stadium profitierten, bis auf einen, nicht
von der Intervention, bei diesen PatientInnen (n=3)
wurde die Therapie nach drei Wochen abgebrochen.
Die Therapiefrequenz lag im Mittel bei 4,3 Mal pro Tag,
und die PatientInnen erhielten ein relativ enges Thera-
pieprogramm (Flexion- und Extensionsbewegungen der
betroffenen Seite) mit einer Dauer von zehn Minuten.
Aufgrund der Ergebnisse dieser Studie entwickelte
Moseley (2004) ein sechswöchiges Therapieprogramm
(GMI) für PatientInnen in der chronischen Phase des
CRPS, welches dreistufig aufgebaut ist:
°
Laterlisationstraining: Das Erkennen von Hand-
oder Fußpositionen (rechts und links) auf Fotos der
betroffenen und nicht betroffenen Extremität in ver-
schiedenen Stellungen. Die Abbildungen können
entweder mittels eines Computerprogramms oder
Karten gezeigt werden.
°
Mentales Bewegen der betroffenen Hand aus der
Ruhestellung (schmerzfrei) in eine durch ein Foto
dargebrachte Stellung.
°
Spiegeltherapie mit unilateralen und bilateralen
Bewegungen.
Spiegeltherapie
beim komplexen regionalen Schmerzsyndrom (
CRPS
)
Matthias Tomczak
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ba-
chelorstudiengang Physiotherapie der
Hochschule Fresenius in Idstein (D) und
dort im Bereich der Forschung, Diagnostik
und Therapie des Bewegungsapparates
tätig. Er arbeitet außerdem im Rotkreuz-
Krankenhaus Frankfurt am Main und hat
sich auf die Behandlung von Schmerzpa-
tientInnen aus dem orthopädisch-trauma-
tologischen Bereich spezialisiert. Seit
einigen Jahren liegt sein Interessenschwer-
punkt im Bereich Spiegeltherapie und men-
tales Training für PatientInnen mit
chronischen Schmerzen. Neben seiner be-
ruflichen Tätigkeit als Physiotherapeut und
Dozent arbeitet er darüber hinaus an seiner
Masterarbeit zum Thema Spiegeltherapie
und mentales Training.
SPIEGELTHERAPIE
Matthias Tomczak bac.nl
Er begründete die Wahl dieser Bausteine durch Studien,
die eine eingeschränkte Lateralisationsfähigkeit der be-
troffenen Extremität bei chronischen CRPS-PatientInnen
zeigen (Reinersmann et al., 2010; Schwoebel et al, 2002).
Durch dieses Training, gefolgt von mentalem Bewegungs-
training und anschließender Spiegeltherapie, sollen erst
prämotorische Areale aktiviert werden und so eine Nor-
malisierung des inneren Körperschemas erfolgen können.
In einem kleinen RCT (n=13) wurden sechs PatientInnen
mit GMI behandelt und zeigten eine signifikante Abnahme
der Schmerzen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die
PatientInnen trainierten mit hoher Frequenz (Training
in jeder wachen Stunde am Tag, circa achtmal), über
sechs Wochen.
In einer kontrollierten randomisierten Studie an Patien-
tInnen mit chronischen CRPS-Typ I nach Schlaganfall
(Cacchio et al., 2009) an 24 PatientInnen ergab die
alleinige Spiegeltherapie eine signifikante Schmerz-
reduzierung im Vergleich zu motorischen Übungen mit
abgedecktem Spiegel und mentalem Training.
Zusammenfassung
Die Spiegeltherapie und das GMI sind eine noch relativ
neue Therapieform, und die bisher erschienenen Studien
zeigen sehr interessante Ergebnisse. Doch bedarf es
weiterer Studien, um die Modalitäten der Behandlung
genauer zu spezifizieren und die PatientInnengruppen
zu identifizieren, die besonders gut auf diese neuen
Therapieformen reagieren.
LITERATUR
Cacchio, A., De Blasis, E., Necozione, S., di Orio, F., Santilli,
V., De, B. E., & di, O. F. (2009). Mirror therapy for chronic
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New England journal of medicine, 361(6), 634-6. Harden, R.
N.,
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drome. Pain Medicine, 8(4), 326-331.
McCabe, C. S., Haigh, R. C., Ring, E. F. J., Halligan, P. W.,
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Moseley, G L. (2004). Graded motor imagery is effective for
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Moseley, G Lorimer. (2005). Is successful rehabilitation of
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Ramachandran, V. S., & Altschuler, E. L. (2009). The use of
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Ramachandran, V. S., Rogers-Ramachandran, D., & Cobb, S.
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Rothgangel, A. S., Braun, S. M., Beurskens, A. J., Seitz, R. J.,
& Wade, D. T. (2011). The clinical aspects of mirror therapy
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Zeitschrift fur Rehabilitationsforschung Revue internationale
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Fotos: Matthias Tomczak
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