physio
austria
inform
April 2012
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Themenschwerpunkt
Schmerz
SCHMERZ
Ulla Kellner, MSc, PT
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und so konsequent wie möglich medika-
mentös behandelt, um die Entstehung des
sogenannten »Schmerzgedächtnisses« zu
verhindern. Durch ständig einfließende
nozizeptive Reize aus der Peripherie an
Rückenmark und Gehirn kann es zu plasti-
schen Veränderungen und zu einer Sensibili-
sierung neuronaler Netzwerke kommen. Der
Schmerz kann auf diese Weise das schädi-
gende Ereignis um Tage, Wochen, Monate
oder Jahre überdauern. Diese chronischen
Schmerzen haben ihre Schutzfunktion ver-
loren. Sie führen zu tief greifenden Verände-
rungen im Alltag der Betroffenen: Kampf
gegen den Schmerz, Verlust der Lebens-
qualität, Angst, Wut, Trauer, soziale Isolation,
Depression und Inaktivität bestimmen nun
das Leben. Beim Chronifizierungsprozess
stehen nicht mehr die medizinischen Fakto-
ren im Vordergrund. Studien zeigen, dass
psychosoziale Komponenten eine viel grö-
ßere prädikitve Aussagekraft in Bezug auf
ein schlechtes Behandlungsergebnis haben
als biologische, strukturelle, anatomische,
biomechanische oder pathologische Be-
funde.
Unsere Berufsgruppe steht hier vor großen
Herausforderungen. Wollen wir eine hoch-
professionelle und tragende Rolle in der Prä-
vention und im Management chronischer
Schmerzen spielen, müssen wir unser Ver-
ständnis und unsere Vorgehensweise bezüg-
lich Schmerz und Schmerztherapie den
neuen wissenschaftlichen Ergebnissen an-
passen. Das Ziel des Managements chroni-
scher SchmerzpatientInnen darf primär nicht
die Schmerzreduktion sein; die Verbesse-
rung der Lebensqualität, die vermehrte Teil-
habe am sozialen und beruflichen Leben,
eine verbesserte Selbstregulation und eine
gesteigerte Funktionalität stehen an erster
Stelle. Ist das Schmerzerleben einmal positiv
verändert, stellt sich zusätzlich häufig eine
Schmerzreduktion ein.
Bereiche der Physiotherapie, in denen ver-
mehrt evidenzbasierte Ansätze zur Schmerz-
bekämpfung einfließen können, sind
1. Befund: Eine bio-psycho-soziale Befunder-
hebung (»Yellow Flags« = psychosoziale
Risikofaktoren) sollte unverzichtbarer Be-
standteil des physiotherapeutischen Prozes-
ses werden, um frühzeitig die wichtigsten
Risikofaktoren einer Chronifizierung oder
eventuell schon bestehende Barrieren für
eine wirksame Therapie zu erkennen; dazu
gehören unter anderem katastrophisierende
Gedanken, Depression, Angst, Unzufrieden-
heit am Arbeitsplatz sowie dysfunktionale
Vorstellungen und Überzeugungen bezüglich
Schmerz und Krankheit. Dies kann mit Hilfe
eines semistrukturierten Interviews erfolgen.
Zusätzlich können standardisierte, validierte
Fragebögen zur Erhebung des Angst-Vermei-
dungsverhaltens (TSK), der Schmerzbewälti-
gung (CSQ), der funktionellen Einschränkung
durch Schmerz (PDI) wichtige Hinweise auf ein
bestehendes maladaptives Krankheitsverhal-
ten oder ungünstige kognitive Überzeugungen
und Krankheitsvorstellungen liefern. Sie die-
nen der Standortbestimmung und werden als
Verlaufsparameter genommen. Die Ergebnisse
bieten zudem eine perfekte Grundlage, um
gemeinsam mit dem/der PatientIn einen The-
rapieplan und klare Therapieziele festzulegen.
2. Therapeutisches Management: Angst,
Nicht-Wissen, falsche Ansichten, Überzeugun-
gen und Vorstellungen hinsichtlich der Ursa-
che und des Verlaufs der Schmerzerkrankung
führen zu ungünstigen gedanklichen Verhal-
tensmustern, zu Vermeidungsverhalten und
lassen das Leiden der Betroffenen noch grö-
ßer werden. Schmerzaufklärung und Schmer-
zedukation spielen in diesem Zusammenhang
eine wichtige Rolle. Wir können eine nachhal-
tige Verhaltensänderung von PatientInnen nur
erwarten, wenn sie gut informiert und damit in
der Lage sind, eine Wahl zu treffen. Neurophy-
siologisches Grundlagenwissen zu Aufnahme,
Weiterleitung und Verarbeitung von Reizen,
günstige und ungünstige Beeinflussung von
Schmerz durch Gedanken und Emotionen,
Einfluss des vegetativen Nervensystems auf
Schmerz sowie Schmerzgedächtnis und neu-
ronale Plastizität sind nur ein paar Themen, die
mit dem/der PatientIn erörtert werden sollten.
Information allein reicht aber nicht aus, um
SchmerzpatientInnen die Angst vor Bewegung
zu nehmen, Vermeidungsverhalten zu reduzie-
ren oder Verhalten zu ändern. Dies kann nur
durch direkte praktische Erfahrung, durch Er-
folgserlebnisse gelingen, bei denen der/die
PatientIn erlebt, dass er/sie die Kontrolle hat
und nicht hilflos dem Schmerz ausgeliefert ist.
In der Behandlung wird neben einer generellen
Steigerung der Belastbarkeit oft das Erreichen
eines ausgeglichenen Aktivitätsniveaus sowie
der Abbau von vorhandenem Schon- und Ver-
meidungsverhalten mittels der Prinzipien der
graduierten Belastungssteigerung (graduierte
Exposition) angestrebt.
Entspannungstechniken waren und sind
integraler Bestandteil eines umfassenden
Schmerzmanagements und sollen helfen, den
Teufelskreis Anspannung – schlechtere Durch-
blutung/Ernährung des Gewebes – Schmerz –
Anspannung zu durchbrechen. Ein relativ
neues Konzept, um Schmerzen zu lindern, ist
das Achtsamkeitstraining. Hier lernen die Be-
troffenen in einem ersten Schritt die Konzen-
trationsfokussierung auf den Atem, um das
allgemeine Erregungsniveau herabzusetzen.
Dadurch wird das vegetative Nervensystem,
das wegen der Schmerzen in einem Dauer-
modus von Kampf oder Flucht (Sympathikus) ist, in den
Modus Regeneration und Erholung (Parasympathikus)
umgeschaltet. Der nächste Schritt ist, Körperempfindun-
gen, Gedanken, Gefühle, Antriebe und Gewohnheiten
zu betrachten, sie weder zu bewerten noch darauf zu
reagieren. Das Ziel der Achtsamkeit im Umgang mit
Schmerzen besteht im Akzeptieren des momentanen
Zustands im Hier und Jetzt. Dadurch fällt der dauernde
Kampf gegen den Schmerz weg. Schmerzverstärkende
körperliche, gedankliche und gefühlsmäßige stereotype
Reaktionsmuster, die zusätzlich zum Schmerz Leiden
erzeugen, werden erkannt, verändert und durch bewuss-
tes, präsentes Handeln ersetzt. Untersuchungen durch
NeurowissenschaftlerInnen belegen, dass schon ein
achtwöchiges Achtsamkeitstraining die Gehirnstruktur
zu ändern vermag. In unserer Therapie können wir die
Tatsache nutzen, dass das erwachsene Gehirn offen für
Veränderungen ist. Veränderte Gedanken und Empfin-
dungen sowie günstiges Verhalten hinterlassen blei-
bende Spuren in den neuronalen Schaltkreisen und
können dadurch das Schmerzerleben nachhaltig positiv
beeinflussen.
Der Wandel vom medizinischen zum bio-psycho-sozialen
Schmerzmodell fordert konsequenterweise ein zeitge-
mäßes interdisziplinäres Schmerzmanagement. Unsere
Berufsgruppe steht vor großen Herausforderungen,
sollen wir dabei wichtige AnsprechpartnerInnen werden.
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Foto: Ulla Kellner
LITERATUR
Gifford L. (1998) Topical Issues
in Pain, Vol. 1. NOI Press.
Zenz M, Jurna I. (2001) Lehrbuch der
Schmerztherapie. Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft Stuttgart.
Tamme P, Tamme I. (2010)
Frei sein im Schmerz. Verlag
Books on Demand, Norderstedt.
Hanson R, Mendius R.( 2010)
Das Gehirn eines Buddha.
Arbor-Verlag, Freiburg.
Donau-Universität Krems.
Zentrum für Neurorehabilitation.
| Tel. +43 (0)2732 893-2631
Postgraduale Universitätslehrgänge für TherapeutInnen & MedizinerInnen
Neurorehabilitation MSc
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Start der Lehrgänge: 22. Oktober 2012
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