physio
austria
inform
April 2012
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April 2012
Zeugnisse für Schmerz und Schmerzbekämpfung sind
schon aus der Vorzeit, der Antike und von Naturvölkern
bekannt. Schmerzen, die durch Verletzungen oder klar
erkennbare direkte Ursachen entstanden, wurden als
etwas Normales, Natürliches angesehen. Schmerzen,
deren Ursache nicht sichtbar war, wurden dem Wirken
von Magie, von übernatürlichen Kräften oder dem Ein-
dringen von Dämonen und magischen Flüssigkeiten
durch die Haut oder die verschiedenen Körperöffnungen
zugeschrieben. Dadurch verlor der Schmerz etwas von
seinem Schrecken, seiner Unbegreiflichkeit. Als Behand-
lung standen Heilrituale wie die symbolische oder sug-
gestive Austreibung des Dämons, schamanische Rituale
und ekstatische Trancen zur Verfügung. In der griechisch-
römischen Antike finden sich neue Deutungen des
Schmerzes: Schmerz als Warnsignal, als Ausdruck für
eine Verschiebung der Balance zwischen den Säften und
Temperamenten im menschlichen Körper. Zudem ent-
stand durch die Zunahme des Wissens in Anatomie und
Physiologie die Vorstellung von Schmerz als pathologi-
schem Mechanismus, hervorgerufen z. B. durch eine
Entzündung. Aderlass, Klistiere, Gymnastik, Bäder und
Schmerzmedikamente wie Kamille, Efeu, Myrrhe und
Opium kamen zum Einsatz. Im 17. Jahrhundert ent-
wickelte sich eine mechanistische Auffassung des
Schmerzes basierend auf den Grundlagen von Descartes,
Spinoza und Locke. Der menschliche Körper wurde
mit einer Maschine verglichen, Schmerz wurde als
Alarmsignal für körperliche oder seelische Fehlfunktionen
gesehen.
Es entstand der »cartesianische Dualismus«, der
Schmerz rational-analytisch in die Teilaspekte Körper
und Seele trennt. Die biologische, funktionelle Bedeutung
von Schmerz wurde methodisch wie in Chemie und
Physik nach dem Kausalitätsprinzip erforscht. Es ent-
stand das biomedizinische Krankheitsbild von Schmerz.
In diesem biomedizinischen Ursache-Wirkung-Modell
wird Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit oder
Schmerz definiert. Die Abnahme von Schmerz steht in
direktem Zusammenhang mit dem Verschwinden der
Krankheit.
Eine grundlegende Wandlung des Schmerzkonzepts fin-
det in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl
mit der stetig zunehmenden Grundlagenforschung als
auch mit der wachsenden klinischen und psychologi-
schen Forschung statt. Das cartesianische Modell mit
seinem linearen Zusammenhang zwischen Schmerz-
empfindung und Schmerzauslösung wird durch ein
Modell abgelöst, das die psychischen, motivationalen
und kognitiven Prozesse bei der Aufnahme, Weiterlei-
tung, Verarbeitung nozizeptiver Reize und bei der
Modulation des Schmerzes einbezieht. Zudem wird der
Mensch als Teil eines umfassenden Systems gesehen, in
dem kulturelle, soziale, ökonomische, kognitive, emotio-
nale, affektiv-motivationale und biologische Faktoren als
gleichbedeutend gesehen und dementsprechend unter-
sucht und behandelt werden. Ein Paradigmenwechsel
findet statt: Das rein biologisch-medizinische Modell des
Schmerzes wird vom bio-psycho-sozialen Modell des
Schmerzes abgelöst. Dieser Entwicklung sollte von allen
Berufsgruppen, die an der Behandlung schmerzkranker
PatientInnen beteiligt sind, Rechnung getragen werden,
indem eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfolgt und
das Umfeld der Betroffenen in die therapeutische Betreu-
ung eingeschlossen wird.
Im klinischen Alltag werden Schmerzen in akut und
chronisch unterteilt. Die akuten Schmerzen sind ein
Warnsignal und sollen vor weiterer Schädigung bewah-
ren. Sie entstehen durch Schädigung der Haut, tieferer
Strukturen oder innerer Organe. Die Differenzierung
der Schmerzursache und die Behandlung mit therapeuti-
schen Maßnahmen sind häufig erfolgreich. Psychische
Faktoren beeinflussen die Wahrnehmung und das Erleben
akuter Schmerzen, stehen jedoch meist nicht im Vorder-
grund. Akute, starke Schmerzen werden heute so früh
SCHMERZ
Themenschwerpunkt
Schmerz
Schmerz und
Schmerzbekämpfung
Prävention und Behandlung akuter sowie chronischer Schmerzen
stellen eine große Herausforderung an die Physiotherapie dar.
Ein kurzer Abriss der Geschichte der Schmerzbehandlung und ein
Ausblick auf Therapiemöglichkeiten.
Ulla Kellner, MSc, PT
Fotos: fUlla Kellner
Ulla Kellner
beendete 1981 ihre Ausbildung zur
Physiotherapeutin am AKH Wien,
spezialisierte sich in Manualtherapie
mit Nachdiplomstudium 1994 zum
grad.dip.manip.therapist in Perth/Australien.
2005 bis 2011 hatte sie die Fachleitung im
ambulanten interdisziplinären Schmerzpro-
gramm des Universitätsspitals Zürich inne,
seit 2012 leitet sie den Fachbereich Schmerz
der Physiotherapie/Ergotherapie in Zusam-
menarbeit mit der Schmerzambulanz des Uni-
versitätsspitals. 2008 Abschluss Master of
Science in Pain Management Cardiff/Wales.
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