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April 2012
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Die Wahrscheinlichkeit, an akuten oder
chronischen Schmerzen zu leiden, steigt mit
zunehmendem Alter an. Nahezu 50 % der zu
Hause lebenden und 80 % der in Pflege-
heimen untergebrachten älteren Menschen
leiden unter chronischen oder rezidivieren-
den Schmerzzuständen.
1
Erkrankungen des muskuloskelettalen
Systems sind die häufigsten Auslöser von
persistierenden Schmerzen, hier am meisten
betroffen sind Hüfte, Knie und Rücken.
Auch neuropathische Schmerzsyndrome
(Post-Zoster-Neuralgie, diabetische Poly-
neuropathie) nehmen im Alter stark zu.
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Die Wahrscheinlichkeit, an einer Tumorer-
krankung zu leiden, steigt mit zunehmendem
Alter, ebenso die Anzahl an chirurgischen
Eingriffen. Schmerzzustände, die damit
einhergehen, begegnen uns in der Physio-
therapie häufig.
Schmerz wird als »unangenehmes Sinnes-
und Gefühlserlebnis« subjektiv wahrgenom-
men. Bei der Erfassung von Schmerzen
müssen sich die Behandelnden daher auf
die Aussagen der PatientInnen verlassen.
Ist dies nicht möglich, zum Beispiel durch
sprachliche Probleme oder auf Grund einer
fortgeschrittenen demenziellen Erkrankung,
müssen andere Methoden der Schmerz-
erhebung angewandt werden.
Dabei ist auch bei älteren PatientInnen das
sicherste Mittel, um Schmerzen zu erfassen,
die Selbsteinschätzung. Dazu kann eine nu-
merische Ratingskala (NRS), eine visuelle
Analogskala (VAS), eine verbale Ratingskala
(VRS) oder eine Gesichtsschmerzskala
verwendet werden.
Diese Skalen sind bei moderaten kognitiven
Defiziten meist noch einsetzbar. Als Faust-
regel gilt, dass PatientInnen mit >18 MMSE
(Mini-Mental State Examination, ein Test zur
Demenzerkennung) mit einem einfachen
Schmerzinterview und Skalen umgehen
können.
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Berichte zu Schmerzen sind bei
auskunftsfähigen DemenzpatientInnen dann
valide, wenn Fragen einfach formuliert sind,
am besten mit »Ja/Nein«-Antwortmöglich-
keit.
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Hilfestellung kann nötig sein, um die
zutreffende Antwort zu bekommen, etwa
indem auf verschiedene Stellen der verbalen
Ratingskala gezeigt wird und der/die Patien-
tIn dazu befragt wird, weil bereits das
gezielte »Zeigen« für manche dieser Patien-
tInnen durch ein Zittern der Hand schwer
möglich ist.
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Bei Demenzkranken, die keine Auskunft
geben können, wird zur Einschätzung von
Schmerzen das Verhalten beobachtet.
Beim Erstkontakt hilft die Einschätzung von:
°
Auffälligkeiten beim Gesichtsausdruck
(zum Beispiel Stirn runzeln,
Nase rümpfen, Grimassieren)
°
Lautäußerungen (zum Beispiel
Jammern, Stöhnen, Aufschreien)
°
Verhaltensreaktionen (zum Beispiel
Abwehrbewegungen, angespannte
Muskulatur, Klammern, Zuckungen)
°
Verhaltensweisen: Reiben, Nesteln,
Vermeidung von Bewegungen
3–4
Bei Behandlungsverläufen kann eine Ver-
änderung im Verhalten und der Aktivität
auf eine Schmerzproblematik hinweisen.
Hierzu zählen auch Unruhe, Aggression und
psychische Auswirkungen von Schmerzen
wie Verwirrtheit, Desinteresse, Konzentra-
tionsstörungen, Angst und Depression.
4
Diese Beobachtungen sind auch in Pflege-
heimen, beispielsweise nach einem Sturz,
zu beachten.
Zur strukturierten Einschätzung von Schmer-
zen gibt es verschiedene Beobachtungsska-
len, wie zum Beispiel PAINAD, PACSLAC,
ECPA, DS-DAT und DOLOPLUS-2.
5–6
Die BESD-Skala (Beurteilung von Schmerzen
bei Demenz) ist eine deutsche Übersetzung
der PAINAD-Scale des Arbeitskreises
»Schmerz und Alter« der Deutschen Gesell-
schaft zum Studium des Schmerzes. Beob-
achtungskriterien sind die Atmung, negative
Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körper-
sprache und Reaktion auf Tröstung.
7–8
Die Beobachtungen sind während Situatio-
nen, in denen PatientInnen mobilisiert wer-
den, zuverlässiger. Die BESD ist vor allem für
mobilere PatientInnen geeignet. Ab einem
Wert von 6 (von maximal 10) ist mit einiger
Sicherheit davon auszugehen, dass der/die
PatientIn Schmerzen hat.
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Schmerzassessment
bei Demenzkranken
SCHMERZMESSUNG
Gerti Wewerka, MSc, PT
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Themenschwerpunkt
Schmerz
Subjektives Schmerzempfinden stellt behandelnde PhysiotherapeutIn-
nen immer wieder vor Probleme, vor allem wenn PatientInnen selbst
nicht mehr in der Lage sind, genau zu bestimmen, wo es wehtut.
Genau definierte Beobachtungsskalen können hier Abhilfe schaffen.
Gerti Wewerka, MSc
Leitende Physiotherapeutin
an der Christian-Doppler-
Klinik und Leiterin der Fach-
gruppe Geriatrie bei Physio
Austria. Sie unterrichtet an
der FH Salzburg im Bachelor-
studiengang Physiotherapie
»Physiotherapie Geriatrie«.
Weiters unterrichtet sie an
der FH Campus Wien im
Masterstudiengang Physio-
therapie »Assessments«.
Foto: © dundanim - Fotolia.com
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