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Das Tape bewirkt – ähnlich wie eine Saug-
glocke – ein Anheben der Haut von der
Gewebeschicht darunter. Die Schmerzrezep-
toren werden vom vermehrten Gewebedruck
durch Flüssigkeitseinlagerungen entlastet.
Dies führt zur verbesserten Mobilisierung
der Schichten gegeneinander und damit
auch zur Schmerzminderung. Schmerz-
impulse (nozizeptive Afferenzen) werden
zusätzlich gedämpft.
7-8
Zur Behandlung tiefer liegender Schichten
(tiefes Faszien- und Drainagesystem, Visze-
rum, Ligamente) mit dem Ziel, Adhäsionen
zu lösen, Gleitflächen zu aktivieren und das
System wieder zu harmonisieren, hat sich
u. a. die Technik des »Unwindings« bewährt.
Dabei folgt die TherapeutInnenhand dem
Gewebezug und wartet am Ende der Bewe-
gung, bis sich die Läsion auflöst. Schicht
für Schicht wird so die ganze fasziale Kette
inklusive der daran beteiligten viszeralen
Systeme behandelt und harmonisiert.
Manchmal sind auch spezifischere Techniken
an Fixierungsstrukturen (zum Beispiel Liga-
mentum latum, Urachus und Faszia vesi-
coumbilicalis, Lamina PVURS) bzw. am
Diaphragma pelvis oder den Organen des
kleinen Beckens gegenüber dem Peritoneum
bzw. den Organen des Verdauungsapparates
notwendig. Die Vorgehensweise bei der Be-
handlung lässt sich differentialdiagnostisch
über spezifische Tests herausfinden.
Behandlungen am parietalen System im
Sinne der Aufhängestruktur beziehungs-
weise Eigenmobilisationstechniken inklusive
Rückbildungsarbeit und Arbeit am Atem
runden eine ganzheitliche, umsichtige Vor-
gehensweise ab.
2-5, 9
Der unsanfte Weg
KAISERSCHNITT
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Der Kaiserschnitt (Sectio ceserea) ist als
eine Form der Entbindung aus Sicht der heu-
tigen Geburtshilfe nicht mehr wegzudenken.
Bedenklich stimmt aber der rasante Anstieg
der Sectiorate in den meisten Ländern der
Ersten Welt. Dabei handelt es sich weniger
um vermehrte medizinische Indikationen, als
vielmehr um soziokulturelle Entwicklungen.
Während in den Industriestaaten die Sectio-
raten ansteigen, fehlt es in den Entwick-
lungsländern oftmals an Möglichkeiten,
durch einen Kaiserschnitt das Leben von
Mutter und Kind zu retten.
1
Jede Kaiserschnittentbindung geht ge-
zwungenermaßen immer mit einer ober-
flächlichen Hautnarbe und tiefer liegenden
Gewebenarben einher. Narben hinterlassen
in der Regel Störfelder im Körper, welche
häufig vom menschlichen Organismus auf
Dauer nicht ausreichend kompensiert wer-
den können. Der Körper signalisiert lokale
und/oder übertragene Schmerzen.
Differentialdiagnostisches Herausfiltern der
Schmerzursachen und Verstehen komplexer
Zusammenhänge des Schmerzbilds werden
für den/die TherapeutIn mit fortschreitender
Zeit immer schwieriger. Viele Patientinnen
melden sich erst nach Jahren mit Schmerzen
im Bereich des Bewegungsapparats und/
oder im Bereich des viszeral/faszialen
Systems.
3–6, 13
Beim Kaiserschnitt wird der sogenannte
»elektive« Kaiserschnitt (umgangssprachlich:
»Wunschkaiserschnitt«) vom nicht geplanten
»Notkaiserschnitt« unterschieden. Jeder der
beiden Formen hat seine spezifischen abso-
luten bzw. relativen Indikationen, auf die im
Artikel nicht näher eingegangen wird. Die
Tatsache, dass Frauen auch eine Re-Sectio
nach einem oder mehreren vorangegange-
nen Kaiserschnitten bekommen können,
stellt uns PhysiotherapeutInnen vor neue
Aufgaben. Die von Dr. Michael Stark ent-
wickelte, erstmals 1994 weltweit präsen-
tierte »Misgav-Ladach-Methode« bringt
durch die Modifizierung und teils Vereinfa-
chung der Schnittführung und Verschluss-
technik entscheidende Wundheilungsvorteile
mit sich. Beispielsweise wird bei dieser Kai-
serschnittmethode das Peritoneum parietale
und viszerale nicht mehr genäht. Das Offen-
lassen des Peritoneum parietale und visze-
rale beim Versorgen des Kaiserschnitts nach
der Kindsentwicklung bringt eine signifikant
niedrigere Rate an Verwachsungen nach
Re-Sectio (Stark 1993). Dies kommt der
verbesserten Drainage und damit der Wund-
heilung zugute. Alle korrespondierenden
Versorgungs- und Bewegungsstrukturen
können somit wieder besser ihre Aufgaben
wahrnehmen.
1, 10–11
Bei jedem Kaiserschnitt werden folgende
Schichten durch Reißen beziehungsweise
Schneiden durchtrennt: Haut, Unterhaut,
Faszia abdominalis superficialis, Faszia trans-
versalis, Faszia vesicoumbilicalis, Peritoneum
parietale und viscerale, Uterus. Der Uterus
wird zur Entwicklung des Kindes luxiert und
anschließend wundversorgt wieder an seinen
Ursprungsort zurückgebettet.
1, 9
Entbindungen per Kaiserschnitt sind niemals
sanft und stellen immer eine der größten und
invasivsten gynäkologischen Operationen dar.
Als von außen sichtbares Zeichen einer Sectio
muss die Hautnarbe erwähnt werden. Dabei
unterscheidet man die heute üblicherweise
quergelegten Schnittformen vom nicht mehr
gängigen Längsschnitt:
°
Pfannenstielschnitt
(Querschnitt an der Schamhaargrenze)
°
Joel-Cohen-Schnitt
(Querschnitt, kranialer angelegt)
Der früher übliche Längsschnitt brachte in
Bezug auf Wundheilung und Verwachsungen
der Muskulatur größere Nachteile (Ma et al.
2005) und wird deswegen nur noch in
Ausnahmefällen angewendet.
Bei den queren Hautschnitten muss rein ana-
tomisch gesehen der Schnittlokalisation nach
Joel-Cohen der Vortritt gegeben werden. Die
Faszie wird dabei oberhalb der Linea arcuata
durchtrennt, welche hier gegenüber dem
Muskel beweglich ist.
Da ein wichtiger Faktor für viele Frauen das
kosmetische Ergebnis der Hautnarbe ist, das
zweifelsohne eher mit dem Pfannenstielschnitt
an der Schamhaargrenze erreicht werden
kann, wird dieser auch häufiger eingesetzt.
Als Nachteil muss allerdings die größere
Traumatisierung der Faszie, welche vom M.
pyramidalis abpräpariert werden muss, gese-
hen werden. Hämatome, Durchtrennungen
von Blutgefäßen und Nervenenden (Nn. Ilioin-
guinalis und iliohypogastricus) sind die Folge.
Diese Nervenverletzungen sind meist der
Auslöser für Missempfindungen rund um den
Narbenbereich und bringen langfristige
Schmerzen mit Einschränkungen der Haut-
sensibiliät (Hurikeshave und Dukel 1998;
Tosur et al. 2006) mit sich.
Beim Hautverschluss bringt die fortlaufende
Interkutannaht die besten kosmetischen
Resultate. Allgemein gilt aber, dass sämtliche
Fremdkörper (unelastisches Fadenmaterial),
straffe Nähweise und die erhöhte Anzahl
der gesetzten Stiche immer einen nicht zu
unterschätzenden zusätzlichen Reizfaktor
am Gewebe darstellen und Schmerzen/
Missempfindungen auslösen können.
Während der Wundheilung kommt es physiolo-
gischerweise zur lokalen Aussprossung und
Vermehrung von Elastin- und Kollagenfasern.
Normalerweise baut sich das Gewebe wieder
zu funktionellem, störfreiem Gewebe um. Ist
dies allerdings nicht oder nur in ungenügen-
dem Ausmaß der Fall, so kommt es zuerst zu
mechanischen und in weiterer Folge auch zu
metabolischen Störungen im Bereich der
tiefen Fasziensysteme, der Organe und der
Haut. Plastizität, Elastizität und Struktur ver-
ändern sich zuerst lokal, weiten sich dann
aber u. a. über faszialen Weg zu größeren
Störungsarealen aus.
13
Das Gewebe reagiert mit Verwachsungen
(Adhäsionen und Fixierungen), Hypomobilität
und Dysfunktion der benachbarten Strukturen
und Organe. Besonders im Bereich der Bauch-
höhle und insbesondere im Bereich des
kleinen Beckens lassen sich faszial/viszerale
Narben nur schlecht kompensieren und brin-
gen noch Jahre später diffuse Schmerzen im
Bereich Lenden-Becken-Hüft-Region und als
übertragener Schmerz sogar Irritationen bis in
die Halswirbelsäule und Bereiche der oberen
Extremitäten.
2–5, 7, 9
Therapie
Die Behandlung der frischen Kaiserschnitt-
narbe und deren korrespondierenden Schmer-
zareale ist relativ schnell zu bewerkstelligen.
Nach Verbesserung der Drainagesituation und
Entstörung der Kaiserschnittnarbe sowie
Bearbeitung individueller, befundorientiert
festgestellter Störfaktoren, verschwindet die
Schmerzproblematik in der Regel relativ rasch.
In jedem Fall ist es aber zu einfach, Rücken-
schmerzen bei Frauen nach Kaiserschnittent-
bindungen auf das lange Liegen im frühen
Wochenbett und die Lagerung während
der Sectio im Operationssaal zu schieben.
Wesentlich schwieriger wird die Behandlung
von Patientinnen, bei denen eine Sectio
bzw. Re-Sectio schon längere Zeit zurück-
liegt und die mit weiter in der Peripherie
liegenden Schmerzen in der Physiotherapie-
praxis vorstellig werden. Die Kaiserschnitt-
narbe wird häufig in der Anamnese nicht
abgefragt bzw. nicht in das Befundverfahren
mit aufgenommen.
Energetische Komponenten
Der Körper im östlichen Gesundheitsver-
ständnis gleicht einer Landkarte mit bilateral
angelegten Energieleitsystemen (Meridia-
nen) und zwei nicht-paarigen Meridianen,
welche sich in der Mittelachse ventral/
dorsal des Körpers befinden. Sie verlaufen
in der Regel von kaudal nach kranial bzw.
von kranial nach kaudal. Der Wirkungs-
bereich der Meridiane in der Tiefe darf nicht
unterschätzt werden und ähnelt dem Verlauf
der faszialen Ketten.
Bei den quer verlaufenden Sectionarben
werden folgende Meridiane durchtrennt:
°
Konzeptionsgefäß (in der Mitte gelegen)
Jeweils links und rechts:
°
Nierenmeridian
°
Magenmeridian
°
Milz-Pankreas-Meridian
Eventuell, bei längeren Schnitten:
°
Lebermeridian
Aufgrund der anatomischen Durchtrennung
der Meridiane kommt es zu einer Barriere
entlang der Narbe, welche nicht nur einen
Flüssigkeitsstau, sondern auch einen Stau
des energetischen Systems mit sich bringt.
Es empfiehlt sich deswegen dringend, sobald
die Hautnarbe abgeheilt ist, eine mit Elektro-
lyten angereicherte, energetische Salbe
(zum Beispiel »APM-Creme«) zur Einreibung
der Narbe zu verwenden. Diese Salben
»überbrücken« die durch die Narbe hervor-
gerufene Barriere und bereiten das energe-
tische System auf die Behandlung des
Energieausgleichs durch Anregung des
Energieflusses vor. Jede energetische Be-
handlung beeinflusst immer das fasziale
System und umgekehrt.
4,6, 9
Die baldige Versorgung mit einem Kinesio-
Tape als gekreuzte Anlage mit maximalem
Zug (Ligamenttechnik) hat sich ebenfalls
bestens bewährt. Durch die beschriebene
Ligamenttechnik wird eine Veränderung des
Narbengewebes (Hypertrophie, Keloide)
vermieden und die Narbe entstört.
Themenschwerpunkt
Schmerz
Nicht immer gibt es für einen Kaiserschnitt eine medizinische Indikation.
In jedem Fall handelt es sich bei einer Sectio um einen höchst invasiven
Eingriff, dessen Narben nicht selten Störfelder im Körper verursachen,
denen mit physiotherapeutischen Methoden beigekommen werden kann.
Monika Siller
ist Physiotherapeutin, mit
Zusatzqualifikationen in der Sportphysio-
therapie und Manualtherapie (OMT). Sie
hat eine eigene Praxis mit Schwerpunkt
Gynäkologie/Geburtshilfe in Köstendorf bei
Salzburg und ist Lektorin an der FH Salzburg
im Bachelorstudiengang Physiotherapie und
Bachelorstudiengang für Hebammen sowie
im Masterstudiengang Hebammen. Sie ist
Mitglied der Physio Austria Fachgruppe
Urologie, Proktologie, Gynäkologie und
Geburtshilfe.
Fotos: Monika Siller
LITERATUR
1 Stark M. (Hrsg.) (2009) Der Kaiserschnitt.
München: Urban & Fischer Verlag
2 Meert GF. (2006) Das Becken aus osteo-
pathischer Sicht. Funktionelle Zusammen-
hänge nach dem Tensegrity-Modell.
München: Urban & Fischer
3 Barral J-P. (2004) Viscerale Osteopathie
in der Gynäkologie – Urogenitale Manipula-
tionen. München: Urban & Fischer Verlag
4 Paoletti S. (2001) Faszien – Anatomie,
Strukturen, Techniken, Spezielle Osteopa-
thie. München: Urban & Fischer Verlag
5 Barral J-P., Mercier P. (2002) Lehrbuch
der Viszeralen Osteopathie Band 1. Mün-
chen: Urban & Fischer Verlag
6 Gleditsch JM. (2007) Lehrbuch und Atlas
der MikroAkuPunktSysteme (MAPS) Grund-
lagen und Praxis der somatotopischen The-
rapie. Marburg: KVM Verlag
7 Butler D., Moseley L. (2009) Schmerzen
verstehen. Heidelberg: Springer Verlag
8 Kumbrink B. (2009) K-Taping. Heidelberg:
Springer Verlag
9 Oblasser C., Ebner U., Wesp G. (2007)
Der Kaiserschnitt hat kein Gesicht.
Salzburg: Edition Riedenburg
10 Morales et al (2007) Postcesarean deli-
very adhesions associated with delayed de-
livery of infant. Am J Obstet Gynecol. 2007
May; 196 (5): 46/e1–6
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ons at repeat cesarean delivery ad adhesi-
ons. Am J Obstet Gynecol. 2007 May, 196
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12 Oschman JL. (2009) Energiemedizin.
Konzepte und ihre wissenschaftliche Basis.
München
13 Helsmoortel J., Hirth T., Wührl P. (2002)
Lehrbuch der viszeralen Osteopathie.
Stuttgart: Georg Thieme Verlag
Monika Siller, PT
1...,2-3,4-5,6-7,8-9,10-11,12-13,14-15,16-17,18-19 22-23,24-25,26-27,28-29,30-31,32