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Juni 2016
35
Die Auseinandersetzung mit der Wechsel-
wirkung zwischen Körper und Seele ist heute
mehr denn je aktuell. Zwar hat die Anwen-
dung des Maschinenmodells auf den
Menschen schon in der Medizin des späten
19. Jahrhunderts dazu beigetragen, Körper
und Seele weitgehend zu trennen (Uexküll &
Wesiack, 2003). Die Psychoanalyse hinge-
gen, die Sigmund Freud zu Beginn des
20. Jahrhunderts entwickelte, sieht in kör-
perlichen Symptomen auch den Ausdruck
oder die Beteiligung psychischer Konflikte
(Boll-Klatt, 2005; Freud, 1925). Ein wichtiger
Wegbereiter der psychosomatischen Medizin
ist Thure von Uexküll, der dafür plädiert, die
Psychosomatik nicht als eigene Disziplin,
sondern als Bestandteil der gesamten Heil-
kunde aufzufassen (Adler et al., 2011).
Psychosomatische Erklärungsmodelle
Zur Erklärung psychosomatischer Zusam-
menhänge dienen heute unter anderem
Stressmodelle, in denen – wie im Biopsycho-
sozialen Modell (u.a. Egger, 2005) – objekti-
vierbare, individuelle und soziale Faktoren
berücksichtigt werden. Vor allem die sub-
jektive Bewertung des Ereignisses und des
eigenen Handlungsspielraumes durch die
betroffene Person ist ausschlaggebend für
das Erleben von Stress (Folkman, 1984;
Schwarzer, 2000). Die Auswirkungen zeigen
sich in verschiedenen Körperbereichen:
So steigert akuter Stress die Immunaktivität,
während chronischer Stress diese hemmt.
Folgen davon sind eine erhöhte Infektanfäl-
ligkeit, unter anderem aufgrund einer ver-
ringerten Antikörperproduktion, und eine
verzögerte Wundheilung (Ader & Cohen,
1993; Nater, Ditzen & Ehlert, 2011).
Psychosomatische Erfahrungen in der
physiotherapeutischen Praxis
In Interviews über die Bedeutung der Psy-
chosomatik in ihrer Praxis äußern Physiothe-
rapeutInnen übereinstimmend, dass sie sich
zwar als KörpertherapeutInnen sehen, aber
psychische Aspekte durchaus einbeziehen
(Kathrein, 2014). Chronisch-rezidivierende
und therapieresistente Beschwerden, insbe-
sondere des Rückens, sowie ein unklarer
Befund sind häufige Anzeichen von psy-
chischen Belastungen. Oft haben die Patien-
tInnen Schwierigkeiten, ihre Symptome zu
beschreiben, und sie zeigen eine gedrückte
Körperhaltung. Die innere Anspannung
spiegelt sich in gestresstem Verhalten,
hohem Gewebetonus und einer verminder-
ten Körperwahrnehmung wider.
In solchen Fällen sollten die TherapeutInnen
ihre Vermutung einer psychischen Beteili-
gung mit Vorsicht und meist erst bei wach-
sendem Vertrauen im Therapieverlauf
ansprechen, wobei körperliche Maßnahmen
unterstützen können. Auch wenn manche
PatientInnen, z.B. mit starker Karriereorien-
tierung, mit Ablehnung reagieren, bewirken
das Äußern von Belastungen und Emotionen
(z.B. durch Weinen) und insbesondere Zeit
und Zuwendung bei vielen Menschen
Erleichterung und Dankbarkeit.
Im Vordergrund stehen hier sanfte und ent-
spannende Therapiemaßnahmen, aber auch
aktive Bewegung und Körperwahrnehmungs-
übungen, je nach konkreter individueller
Situation. Die Behandlung dauert tendenziell
länger, der Therapiefortschritt sowie die
physiotherapeutischen Möglichkeiten sind
oft eingeschränkt. Die Aufklärung der Patien-
tInnen über psychosomatische Zusammen-
hänge fördert häufig das Verstehen und die
Eigenverantwortung. Bei Bedarf können
weiterführende (Therapie-) Empfehlungen,
z.B. das Weitergeben von Kontaktadressen,
hilfreich sein und zudem zur interdisziplinä-
ren Zusammenarbeit beitragen.
Unsicherheiten begegnen
Die Qualität der therapeutischen Beziehung
hat einerseits einen großen Einfluss auf das
Vorgehen, andererseits aber auch auf das
Abgrenzungsvermögen der Physiotherapeu-
tInnen. Je mehr Nähe erlebt wird, desto
schwieriger ist die notwendige professionelle
Distanzierung von den Problemen der
PatientInnen. Andererseits kann gerade das
offene Sprechen über Lebensbereiche, die
über die körperlichen Beschwerden hinaus-
gehen, die Beziehung vertiefen.
Die Selbstfürsorge und insbesondere die
Kompetenzvermittlung für den Umgang mit
psychisch belasteten PatientInnen wurden
bislang in der Ausbildung der TherapeutIn-
nen noch zu wenig berücksichtigt. Auf die
dadurch fehlenden Kompetenzen führen
viele ihre zum Teil erlebte Unsicherheit und
Frustration in der Behandlung zurück. Dies
trifft selbst auf jene zu, die bereits nach dem
neuen Fachhochschulcurriculum studiert
haben, in dem derartigen Inhalten schon
mehr Raum gegeben wird. Aus diesem
Grund wäre in der Ausbildung eine noch um-
fassendere Auseinandersetzung mit diesen
Themen, z. B. in Form von Selbsterfahrung
und Supervision, anzustreben, die letztlich
nicht nur den PhysiotherapeutInnen, son-
dern auch den PatientInnen zugutekommt.
Astrid Kathrein, BSc MSc
»DIE AUFKLÄRUNG DER
PATIENTiNNEN ÜBER PSYCHO-
SOMATISCHE ZUSAMMENHÄNGE
FÖRDERT HÄUFIG DAS
VERSTEHEN UND DIE
EIGENVERANTWORTUNG.«
MENTAL HEALTH
Astrid Kathrein, BSc MSc
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