30
physio
austria
inform
Juni 2016
Die hier porträtierten Frauen kritisierten seit
den 1980er Jahren - basierend auf ihrer prak-
tischen Tätigkeit und v.a. auf aktuellen neu-
rowissenschaftlichen Erkenntnissen, unter
anderem des Neurowissenschafters Nikolai
Bernstein - die damals etablierten neuro-
physiologischen Ansätze. Sie führten wissen-
schaftlich basierte und auf Effektivität über-
prüfte therapeutische Ansätze ein; allen
voran das »Aufgaben-orientierte Training«.
In diesem Sinne sind sie Wegbereiterinnen
der evidenzbasierten Physiotherapie in der
Neurologie.
Die Neuro-Physiotherapie verändert sich
Am Beginn steht die erst kürzlich verstor-
bene
Ann Gentile
(1936 bis 2016; PhD
in Physical Education & PhD in Neuropsy-
chologie). Über 40 Jahre unterrichtete und
forschte sie am Teachers College der Colum-
bia University in New York. Sie gründete den
ersten interdisziplinären Studiengang zum
motorischen Lernen und war 1976 eine der
ersten Frauen im ProfessorInnen-Team am
Teachers College.
Bekannt in der Physiotherapie wurde vor
allem ihre Task Taxonomie (Gentile, 1972),
mit der sie die Überlegung verband, dass
Anforderungen in der Durchführung motori-
scher Aufgaben stark von Umweltbedingun-
gen beeinflusst werden. In ihren späteren
Forschungsarbeiten zeigte sie, dass die
Wiederherstellung der Funktion nach Schlag-
anfall durch aktives Training in förderlicher
Umgebung möglich ist (Held et al., 1985).
Durch ihre intensive Lehrtätigkeit und Be-
treuung von Master- und Doktorarbeiten
beeinflusste sie viele PhysiotherapeutInnen
in deren praktischer und wissenschaftlicher
Arbeit.
Pionierinnen
des Motorischen Lernens
Kurzporträts einflussreicher Frauen in der Physiotherapie
Zwei dieser StudentInnen waren
Janet Carr
(1933 bis 2014) und
Roberta Shepherd
(Diplom in Physiotherapie 1956), zwei
australische Physiotherapeutinnen. Wie
niemand vor ihnen verbreiteten sie den Auf-
gaben-orientierten Ansatz, unter anderem
durch ihre Fachbücher, die in der Ausbildung
von PhysiotherapeutInnen heute kaum noch
wegzudenken sind (z.B. Shepherd & Carr,
1987). Außerdem definierten sie primäre und
sekundäre Beeinträchtigungen nach einem
Schlaganfall und forderten, diese in der
Behandlung entsprechend zu berücksichtigen
(z.B. durch Kraft- oder Ausdauertraining;
also Maßnahmen, die lange Zeit abgelehnt
wurden).
Anne Shumway-Cook
(geb. 1947) wird
einigen LeserInnen bekannt sein: Sie gab
gemeinsam mit ihrer Kollegin
Marjorie
Woollacott
im Juni 2013 einen von Physio
Austria organisierten Kurs an der Med Uni
Wien zum Thema Balance. Shumway-Cook
gilt international als »die« Balance-Expertin.
Ihr Buch »Motor Control: Translating
Research into Clinical Practice« (Shumway-
Cook & Woollacott, 1995) ist fester Bestand-
teil der Physiotherapie-Ausbildung im
anglo-amerikanischen Raum. Neben ihrer
äußerst erfolgreichen wissenschaftlichen
Karriere (mit über 70 Artikeln) und intensiver
Unterrichtstätigkeit arbeitet sie bis heute
als Physiotherapeutin.
In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die Entwicklung
bzw. Implementierung des motorischen Lernens in der
Physiotherapie. Diese von uns beschriebene Entwicklung
fand primär in den USA statt, initiiert und vorangetrieben
von Frauen in unserem Beruf.
LITERATUR
Gentile, A. (1972). A Working
Model of Skill Acquisition with
Application to Teaching. Quest,
17, 3-23.
Held, J. , Gordon, J. & Gentile, A.
(1985). Environmental influences
on locomotor recovery following
cortical lesions in rats. Behav
Neurosci, 99, 678-90.
Carr, J. & Shepherd, R. (1987).
A motor relearning programme
for stroke. 1st ed., Aspen
Publishers, New York.
Shumway-Cook, A. & Woollacott,
M. (1995). Motor Control: Trans-
lating Research into Clinical
Practice. 1st ed., Lippincott
Williams & Wilkins, Philadelphia.
Wolf, S., Winstein, C., Miller, J. et
al. (2006). Effect of constraint-
induced movement therapy on
upper extremity function 3 to 9
months after stroke - The EXCITE
randomized clinical trial. JAMA,
296, 2095-104.
Winstein, C. et al. (1996). Lear-
ning a partial-weight-bearing skill:
Effectiveness of two forms of
feedback. Physical Therapy, 76,
985-93.
Deutsche Gesellschaft für Neuro-
rehabilitation (2009). S2e-Leitli-
nien der DGNR zur motorischen
Rehabilitation der oberen Extre-
mität nach Schlaganfall. Neurol
Rehabil 15,81-106.
Lang, C. et al. (2007). Counting
repetitions: an observational
study of outpatient therapy for
people with hemiparesis post-
stroke. J Neurol Phys Ther, 31,
3-10.
Birkenmeier, R., Prager, E. &
Lang, C. (2010). Translating
animal doses of task-specific
training to people with chronic
stroke in 1-hour therapy sessions:
a proof-of-concept study.
Neurorehabil Neural Repair,
24, 620-35.
Themenschwerpunkt
Lernen in der Physiotherapie