Stürze – fast unvermeidbar, aber nicht immer übel
Um Stürzen vorzubeugen, ist es nicht immer zielführend, möglichst viel Balance zu trainieren. Meistens gibt es spezifische Defizite, die identifiziert werden müssen.
Meine spielende Tochter im Garten stolpert gerade über ihre eigenen Beine und kommt mit dem Kinn auf dem Rasen zu Boden. Nach einer Schrecksekunde steht sie auf und setzt ihre Sache unbeeindruckt fort. Da kommt ein Anruf. Die Oma ist im Krankenhaus. Während sie ihrer Enkelin die Schultasche übergeben wollte, muss sie beim unscheinbaren Steg ihrer Haustür hängen geblieben sein. Sie ging zu Boden.
Diagnose: Hüftfraktur. Sofort verzieht sich meine Miene, wissend um den langen und beschwerlichen Weg zurück nach der OP. Selbst für Jüngere ist das mühsam, für Ältere besteht die Gefahr, nicht mehr ihre volle Selbstständigkeit zurückzuerlangen. Jede*r Dritte über 65 Jahre stürzt einmal im Jahr.
Jede*r zweite Spitalsaufenthalt dieser Personengruppe wird durch einen Sturz verursacht. Prädiktoren für Stürze sind neben dem Alter auch die Anzahl
vorangegangener Stürze. Je älter und je häufiger bereits gestürzt, desto eher ist wieder ein Sturz erwartbar. Weitere Vorhersagewerte für Stürze sind Krankheiten welche motorische Funktionen beeinträchtigen und Umgebungsfaktoren. Darunter versteht man beispielsweise die Beschaffenheit des häuslichen Umfelds – gibt es viele Stufen, Engstellen oder Hindernisse?
Was hilft?
Zusammengefasste Ergebnisse aus dutzenden Studien mit zehntausenden Teilnehmer*innen im Alter 60+ liefern wertvolle Erkenntnisse. Funktionelle Übungen in Kombination mit Gleichgewichtsübungen können die Anzahl von Stürzen um ein Viertel reduzieren. Funktionelle Übungen zielen vor allem auf das Training von Situationen im Alltag ab. Hierzu zählen beispielweise Varianten von Kniebeugen, das Steigen über Hindernisse oder schnelles Umdrehen während man Stiegen hinab geht. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Studien, welche multifaktorielle Maßnahmen untersuchten. Hierzu zählen Kombinationen aus Übungen, Anpassungen der Alltags-Umgebung oder die richtige Einstellung von Medikamenten. Auch Krafttraining und Tai-Chi sind wertvolle Präventionsmaßnahmen, welche die Anzahl von Stürzen reduzieren können. Neben weniger Stürzen kommt es mit diesen Maßnahmen aber auch zu weniger
sturzbedingten Knochenbrüchen. Stürze haben also einen weniger fatalen Ausgang, man stürzt „besser“.
Also mehr Gleichgewichtstraining?
Übungen, die ein besseres Zusammenspiel der Muskeln trainieren, können als Zusatz zu funktionellen Übungen durchaus Sinn machen. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass man mit besserer Balance weniger häufig stürzt. Der entscheidende Faktor ist die individuelle Anpassung des Trainings an die jeweiligen Bedürfnisse.
Möglicherweise besitzen Sie gute Standfestigkeit, haben aber in dynamischen Situationen nicht die Kraft, sich zu halten oder aufzufangen. In diesem Fall bringen zusätzliche Balanceübungen keinen großen Mehrwert. Stattdessen müssen Übungen angestrebt werden, welche auf das Kraftdefizit abzielen. Jemand anders ist beispielsweise vordergründig durch eine neurologische Erkrankung eingeschränkt, welche ein Stolpern begünstigt. Hier müssen zuerst diese Faktoren berücksichtigt werden.
Fazit: Viel Bewegung und ausreichend kräftige Muskeln sind ein Grundbaustein für ein gesundes
Leben. Auch Gleichgewichtsübungen haben ihre Berechtigung. Doch fragen Sie sich zuerst, ob Sie schon häufiger gestürzt sind und was die genauen Gründe dafür waren. Stolpern Sie häufig oder knöcheln Sie öfter um? Haben Sie manchmal das Gefühl, dass ein Bein „nachgibt“ und Sie schnell mit dem anderen Bein zusteigen müssen? Je genauer die Antworten, desto besser lassen sich Defizite erkennen und Maßnahmen dagegen finden. Je spezifischer das Training, desto besser.
Literatur:
Sherrington C. et al. (2019). Exercise for preventing falls in older people living in the community. Cochrane Database of Systematic Reviews 2019, Issue 1. Art.
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WHO global report on falls prevention in older age. ISBN 978 92 4 156353 6 (NLM classification: WA 288) © World Health Organization 2007
Seaman, K. et al. (2022). The use of predictive fall models for older adults receiving aged care, using routinely collected electronic health record data: a
systematic review. BMC Geriatr 22, 210 (2022). https://doi.org/10.1186/s12877-022-02901-2
AutorIn
Dominic Ledinger, BSc MSc MPH
Freiberuflich tätiger Physiotherapeut in Krems