Nicht, was es zu sein scheint

Schmerz im Schafspelz

von Lucas Clemens Dunst, BSc MSc

Denken Sie kurz über den Sinn von Schmerz nach. Was wären die Folgen eines Lebens ohne Schmerz? Wussten Sie, dass es Erkrankungen mit einer vollkommen fehlenden Schmerzwahrnehmung gibt? Die Folge ist, dass sich die Betroffenen im Laufe ihres Lebens teilweise schwere Verletzungen zufügen. Hierbei wird der schützende Charakter von Schmerz schnell offensichtlich. Bei chronischem Schmerz, dem meist keine fassbare körperliche Ursache mehr zugrunde liegt, ist dies jedoch bedeutend schwieriger. Chronischer Schmerz hat seine schützende Funktion in der Regel verloren und ist selbst zu einem Gesundheitsproblem geworden. Mindestens 20 Prozent der Menschen weltweit leiden an chronischen Schmerzen. Ein möglicher Grund ist ein fehlerhafter Umgang mit Schmerz, dessen Wurzeln wiederum in Überzeugungen liegen, die den Erkenntnissen der modernen Schmerzforschung nicht mehr entsprechen. Und seien Sie sich gewiss: Diese Überzeugungen machen auch vor Angehörigen von Gesundheitsberufen keinen Halt.

 

Schmerz ist biopsychosozial

Eine weitverbreitete Überzeugung ist, dass Schmerz immer eine rein körperliche Ursache hat. Das ist zwar grundsätzlich richtig, da sich Schmerz nur anhand unseres Körpers zeigen kann. Wie Schmerz jedoch entsteht und warum er sich verhält, wie er es tut, ist eine vollkommen andere Sache. Wenngleich Verletzungen mit Schmerzen aufzutreten scheinen, ist dies noch längst nicht als einzige Ursache zu sehen. Um dies zu verstehen, müssen grundsätzlich die beiden Begriffe Schmerz und Nozizeption unterschieden werden. Nozizeption ist die Registrierung und Weiterleitung von Gefahrensignalen aus Körpergeweben zum Gehirn – wo Schmerz gebildet wird. Diese Gefahrensignale sollten nicht mit Schmerz gleichgesetzt werden. Sie machen nur einen Teil der Schmerzerfahrung aus. Wie wir heute durch eine Vielzahl von Experimenten wissen, muss trotz des Vorliegens eines solchen Gefahrensignals kein Schmerz entstehen. Umgekehrt kann Schmerz aber auch ohne das Vorhandensein dieser Gefahrensignale entstehen. 

Vielleicht ist Ihnen selbst schon einmal ein blauer Fleck oder eine kleine Wunde aufgefallen, ohne jemals Schmerzen gehabt zu haben oder sich an ein entsprechendes Ereignis zu erinnern. Zudem können bei vollkommen gesunden Menschen Veränderungen an Gelenken, Wirbelsäule (z. B. Arthrose, Bandscheibenvorfälle) und anderen Körpergeweben vorhanden sein, ohne dass dadurch jemals Schmerzen aufgetreten wären. Ein einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhang liegt hierbei also nicht vor. Aufgrund vieler wissenschaftlicher Erkenntnisse kann es als gesichert angesehen werden, dass nicht nur biologische, sondern auch psychische und soziale Faktoren einen Einfluss auf die Schmerzerfahrung und -entstehung ausüben. Dazu zählen beispielsweise Verletzung, verringerte Belastbarkeit, Gedanken, Emotionen und Arbeitsbedingungen. Schmerz ist immer etwas Individuelles, wodurch die Anteile dieser Faktoren bei jedem Menschen unterschiedlich ausfallen können. Da unsere Gesundheit von verschiedenen biopsychosozialen Faktoren positiv wie auch negativ beeinflusst wird, ist es aber durchaus sinnvoll, einen solchen Schutzmechanismus zu besitzen.

Stellen Sie daher jene Dinge, die Sie über Schmerzen zu wissen glauben, infrage. Lernen Sie, was es über Schmerzen zu wissen gibt! Insbesondere dann, wenn Sie selbst unter Schmerzen leiden. Dies trägt nachweislich zur Bewältigung von Schmerz und zur gesundheitlichen Wiederherstellung bei. 

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Lucas Clemens Dunst, BSc MSc

Physiotherapeut, Gewinner des Physio Research Awards 2020

Aus der Ausgabe

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2020|12

Bewegt-Magazin Dezember 2020

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