Physiotherapeutische Arbeit schließt seelische mit ein

Mentale Gesundheit bei älteren Menschen

von Eva Müllauer

Es gibt keine Alterskrankheiten. Aber es gibt eine Fülle von gesundheitlichen Problemen, die im Alter zeitgleich vorhanden sind und das seelische Wohlbefinden beeinflussen. Ein Erfahrungsbericht aus der Arbeit auf einer Bettenstation.

Als junge Therapeutin habe ich auf einer Bettenstation eines Pensionistenwohnhauses gearbeitet. Jene Menschen, die dort betreut wurden, haben mich vieles gelehrt und mich zu der Therapeutin gemacht, die ich heute bin. Sie waren alle stationär aufgenommen, da ihr körperlicher Zustand sie zumindest auf gewisse Zeit abhängig von anderen gemacht hat. Wie wirkte sich diese Abhängigkeit aus? Rückblickend kann ich sagen, dass es immer von den Patienten und Patientinnen selbst abhängig war, wie sie mit der Situation zurechtgekommen sind. Bedeutete ein Sturz auf der Straße, der einen Oberschenkelhalsbruch zur Folge hatte, den Sturz in die Abhängigkeit und den Verlust der Selbstbestimmung, gab es zwei Wege, um damit umzugehen: In manchen erwachte der Kampfgeist und sie wollten möglichst schnell wieder auf die Beine kommen. Andere wiederum waren kaum zu motivieren, in der Physiotherapie mitzumachen und daran zu glauben, dass sie bald wieder selbständig gehen können.

Was machte den Unterschied aus? Ich glaube, dass in beiden Fällen Angst ein treibender Faktor war. Angst hat die einen gelähmt: „Ich habe ja gewusst, dass es eines Tages so endet. Und jetzt liege ich da auf der Bettenstation und komme nie wieder von hier weg.“ Die anderen waren beflügelt: „Wann kommen Sie wieder? Kommen Sie jeden Tag? Was kann ich alleine üben? Ich möchte nicht zu lange hier bleiben müssen!“

 

Dauerhaft in Betreuung

Jene Menschen, die aufgrund ihres hohen Alters oder auch wegen ihrer Demenz dauerhaft auf der Station lebten, schienen ihre Abhängigkeit unterschiedlich zu erleben. Manche der dementen Patientinnen und Patienten wirkten zufrieden. Sie waren in ihrer Mobilität selbst dann nicht zu bremsen, wenn sie nach einem Sturz Prellungen oder auch einen Bruch erlitten hatten. Jene, die wahrnehmen konnten, dass sie dement wurden, erlebte ich in einem Wechselbad der Gefühle zwischen Wut und Verzweiflung. Die Wut richtete sich oft gegen die Umwelt, gegen andere, die etwas weggenommen oder versteckt hätten, oder das Personal, das beschuldigt wurde, etwas gestohlen zu haben. Ihre Verzweiflung äußerte sich in Aussagen wie: Ich bin ja gar nichts mehr wert. Ihr Todeswunsch war oft stark ausgeprägt und Zuwendung alleine nicht genug, um sie aus ihrer Lethargie befreien zu können. Manchmal halfen Medikamente, die Situation zu verbessern, aber nicht immer. Sich selbst etwas wert zu sein, schien der ausschlaggebende Faktor zu sein, der die pflegeabhängigen, alten Menschen akzeptieren ließ, dass sie auf Grund ihrer körperlichen Einbußen ihren Lebensabend auf einer Bettenstation verbringen dürfen (nicht müssen). Sie betrachteten ihr Bett und ihr Zimmer als ihr Zuhause und das Personal als ihre Familie. Ihr Körper versagte ihnen den Dienst, aber ihr Geist blieb wach. Ich erlebte viele von ihnen als fröhlich und dankbar.

Die Psyche der alten Menschen findet unterschiedliche Wege, um mit körperlichen Defiziten und den Verlusten von Sehkraft, Hörfähigkeit, Muskelkraft, Kontinenz oder Gedächtnis umzugehen. Wir Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen hören zu und sind feinfühlig, um zu erkennen, wenn nicht nur der Körper, sondern auch die Seele Hilfe braucht.

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Eva Müllauer

Physiotherapeutin, Fachbereichsleitung für den Bereich Psychiatrie und Kinder- & Jugendpsychiatrie am Krankenhaus Nord

Aus der Ausgabe

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2019|06

Bewegt-Magazin Juni 2019

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