Interview mit Gerald Mitterbauer: Präventions- und Rehabilitationsmanagement im Leistungssport.
Worin bestehen deine Tätigkeiten?
Ich durfte im deutschen Skiverband (DSV) vor Jahren an der Schnittstelle Physiotherapie und Athletiktraining mitwirken und bin deshalb dort gut vernetzt. Die sportliche Leitung hat die Wichtigkeit von Verletzungsprävention und optimaler Rehabilitation nach Verletzungen absolut erkannt und ist offen für neue Wege. Das hat aus intensiven Diskussionen heraus das genannte Projekt initiiert, das ich gemeinsam mit zwei KollegInnen schrittweise in die Umsetzung zu bringen versuche. Die Idee ist, Prozesse zur Gesunderhaltung oder deren Wiederherstellung genauso optimal zu strukturieren und ablaufen zu lassen wie üblicherweise Prozesse der Leistungsentwicklung. Klar ist auch, dass Leistungssport das Ausloten von Belastungsgrenzen auf dem Weg – in unserem Fall – zur Bestzeit bedeutet. Aber genau so klar ist auch, dass verletzte Sportlerinnen und Sportler weniger belastbar sind und damit in der Regel auch weniger leistungsfähig – das ist quasi unser Hebel in der Geschichte. Prävention – egal ob Primärprävention im Sinne der Verletzungsvermeidung, Sekundärprävention durch schnelles und konsequentes Reagieren auf kleinere Probleme oder Tertiärprävention als optimale Wiederherstellung nach Verletzungen – ist immer leistungsfördernd! Das ist auch unser bevorzugtes Wording. Zudem zeigt die Erfahrung, dass Verletzungen – ein Beispiel dafür sind die in unserem Sport gehäuften Knieverletzungen – oft zu längeren Ausfallzeiten führen und die Betroffenen sich manchmal im Abseits fühlen, auch weil sie aus dem Teamgefüge herausgerissen sind und die Matrix für klar strukturierte Abläufe teilweise fehlt, um so etwas aufzufangen. Damit ist es auch wenig verwunderlich, dass dort und da das Phänomen Ärzte-Physio-Hopping auftaucht: Man greift quasi nach jedem Strohhalm, den man erwischen kann. Insgesamt erscheint es also sinnvoll, diese Abläufe ebenso gut zu strukturieren wie jene der Leistungsentwicklung – was manchmal an den Ressourcen scheitern kann oder diese zumindest limitiert. Aber auch kleine Schritte in die richtige Richtung, die auf bestehenden Strukturen aufbauen, sind wertvoll – und wir sind guter Hoffnung, damit auch Anregungen für andere Sportverbände liefern zu können.
Wie viele Berufsgruppen sind in diesem Projekt involviert?
Vielleicht fokussieren wir dazu mal auf das muskuloskelettale Reha-Management. Auch wenn wir andere relevante Bereiche mitgedacht und geplant haben, liegt unser momentanes Hauptaugenmerk am Bewegungsapparat. Also – wenn wir beim Beispiel „schwere Knieverletzung“ bleiben, dann bedeutet das konkret Folgendes: Die leitenden Mannschaftsärzte kümmern sich nach der Erstversorgung um eventuell notwendige zusätzliche Abklärungen und gegebenenfalls um die OP-Vorbereitungen und Durchführung. Zugleich werden wir mit ins Boot geholt, um den Gesamtprozess aufzugleisen. Wir organisieren dann das weitere Prozedere – das heißt wir gestalten gemeinsam mit der/dem verletzten SportlerIn die Situation mit den „Heim-Physios“ und besprechen dort auch schon unser Reha-Schema. Dann geht’s darum, die stationäre Reha mit unseren externen medizinischen Partnern zu organisieren. Wenn die ersten Reha-Phasen geschafft sind, werden alle relevanten Personen im sogenannten Steuerkreis über die Abläufe, den Zwischenstand und das weitere Vorgehen informiert. Und so geht es über den gesamten Verlauf bis hin zum Return-to-Sport-Prozedere weiter. Ich weiß, das klingt überzogen – aber die Erfahrung hat uns gelehrt: Transparenz und fortlaufende Kommunikation ist ein Schlüssel für gelingende Reha-Prozesse mit vielen beteiligten Personen. Macht man das nicht, kommt es schnell zu Interventionsüberlagerungen oder Auslassungen – zu Missverständnissen sogar, die selten dienlich sind. Die Beteiligten– die verantwortlichen Coaches, Athletik- und Konditionstrainer, Team-Physios, sportpsychologischen Teams und die vielen medizinisch-therapeutischen Partnereinrichtungen – kommen aus verschiedenen Bereichen und sind alle in den unterschiedlichen Reha-Phasen mehr oder weniger inkludiert aber immer alle informiert – genauso wie eventuell das soziale Umfeld gerade bei den Jugendlichen miteinbezogen werden muss. Achtung: Gegebenenfalls nicht zu unterschätzen sind Sponsoren oder Medien – auch da kann es erklärende Informationen brauchen.
Hast du spezifische Eigenheiten von Berufsgruppen feststellen können? Kann es sein, dass beim Zusammentreffen von scheinbar unterschiedlichen Positionen wie Erhaltung der Gesundheit und Leistungssteigerung eine Bruchlinie entsteht?
Was wir bisher beobachtet haben, betrifft generell das Setting im Leistungssport die Ausrichtung aller Beteiligten am Fokus „sportlicher Erfolg“. Kommt es aber zu gesundheitlichen Problemen und damit zur Leistungseinschränkung, muss man umschwenken können – und das fällt nicht immer leicht. Die Betroffenen selbst und das Trainer-Team haben den Anspruch, möglichst schnell wieder zurück zur vollen Leistung zu kommen. Die medizinische Abteilung macht da schon einen Spagat: Was ist vertretbar schnell und welche Interventionen sind angemessen? Und je nachdem, wie sehr man sich dem schnellen Erfolg verschreibt oder eben nicht, kann es zu unterschiedlichen Erwartungen und damit auch zu Reibungspunkten kommen. Auch da ist unsere Rolle als Vermittlungsinstanz wieder gefragt – was nebenbei bemerkt gar nicht so einfach ist, wie es erscheinen mag. Aber letztlich ist es unumgänglich, ein gemeinsames Vorgehen zu gestalten, mit unterschiedlichen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Wie gesagt, das erlebe ich als eine der größten Anstrengungen – das Abstimmen und auch Abgrenzen der Kompetenzen. Das braucht Selbstreflexionsbereitschaft und Rollenklarheit. Man muss sich aufeinander einlassen und Vertrauen zueinander haben. Gerade im Sportsetting, wo die Stakeholder meist sehr selbstbestimmt und überzeugt von der eigenen Kompetenz agieren, kann die Prozessbegleitung auch sehr fordern.
Noch kurz zur angesprochenen Bruchlinie: Sagen wir vereinfachend, dass die Bruchlinie zwischen den leistungsorientierten Coaches und den gesundheitsorientierten medizinisch-therapeutischen Betreuerinnen und Betreuern liegt. Aber in der Realität zeigt sich diese Bruchlinie vielmehr an den persönlichen Einstellungen zu den Themen Gesundheit und Leistung. Es kann durchaus sein, dass aus dem medizinisch-therapeutischen Umfeld gepusht wird und TrainerInnen bremsen. Untersuchungen im deutschen Nachwuchs-Leistungssport (GOAL-Studie) zeigen, dass Gesundheitsrisiken für junge Sportlerinnen und Sportler dann steigen, wenn sich das medizinische Fachpersonal zu stark dem Leistungs-Erfolgs-Dogma verschreibt. Also auch da ist immer wieder Selbstreflexion gefragt. Grundsätzlich kann ich aber sagen, dass vernunftgeleitetes Handeln überwiegt.
Was bedeutet Qualität in der Rehabilitation für dich und für euch?
Aus meiner und unserer Sicht entsteht Qualität dann, wenn sich alle Beteiligten auf ein fundiertes, kooperatives und koordiniertes Vorgehen im Reha-Prozess verständigen und alle Beteiligten das machen, was sie am besten können und was der Gesundwerdung der betroffenen Person am besten dient, wenn die Sportlerin oder der Sportler eine zentrale gestaltende Rolle in diesem Steuerkreis spielt.
Entscheidend ist auch, zu erkennen, wann es unterstützende externe Expertisen braucht – aber auch zu realisieren, dass viel nicht immer viel und schnell hilft. Gerade auch der Sport ist anfällig für Therapie- und Trainingshypes – auch da ist immer gut abzuwägen – wann lohnt sich Offenheit für Neues mit vielleicht noch wenig Evidenz und wann erscheint es als Risiko oder gar kontraproduktiv.
Etwas sperrig zusammengefasst: open-minded-evidence based best interdisciplinary-practice.
Wie sieht bei euch die Evaluierung aus? Geht es hier um Ergebnisse oder geht es mit dem Prozess an sich?
Für die ersten zwei Jahre haben wir uns aufgrund der eingeschränkten Ressourcen darauf verständigt, das Projekt eher prozessorientiert auszurichten und den Bereich des Reha-Managements zu fokussieren. Dann geht’s in Folge um erste Projekt-Evaluierungen. Wir haben Verletzungsstatistiken mitlaufen und hoffen, dass sich da was zeigt. Im Moment sind wir noch am Ausleuchten von Problemfeldern und Aufzeigen möglicher Maßnahmen. Was sich mittlerweile im Präventionsbereich schon gut etabliert hat, ist ein von Kolleginnen und Kollegen entwickeltes funktionelles Screening, aus dem sich auch Trainingsempfehlungen ableiten lassen. Auch das Thema Monitoring und Belastungs-Steuerung ist angekommen – so gesehen hat sich schon einiges bewegt.
Besteht bei eurem Projekt beim Rehaprozess eine klassische Hierarchie, wie sie üblicherweise in einem Krankenhaus vorherrscht? Lässt sich euer Modell auf andere Sportarten übertragen?
Ich würde nicht von Hierarchie im klassischen Sinne sprechen, sondern eher von kompetenzorientierten Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Wenn es am Anfang darum geht, ein Knie zu operieren, wird man sich ans medizinische Personal richten und nicht die Trainer bitten, das zu übernehmen. Zu einem späteren Zeitpunkt dreht sich das. Wir tauschen uns aber insgesamt sehr viel mit den einzelnen Fachbereichen aus und versuchen damit, Brücken zu schlagen und herauszufinden, wo es noch mehr braucht. Zugleich erleben wir auch, dass es wichtig ist, Dynamiken entstehen zu lassen und Einschätzungen aufeinanderprallen zu lassen. Wenn man Prozesse optimal steuern will, läuft man auch Gefahr, zu stark im Controlling hängen zu bleiben und Entwicklungen zu blockieren.
Alles in allem gibt es klar zugeordnete Kompetenzen, nachvollziehbare Reha-Phasen, wo unterschiedliche Schwerpunkte bedient werden und damit eine gemeinsame breit gefächerte Verantwortung. Damit haben wir ein tragendes Fundament. Wenn die Bereitschaft für so ein Modell gegeben ist, lässt sich das sicher in angepasster Form auch auf anderen Sportarten übertragen – warum nicht und das gibt’s ja auch schon.
Du hast evidenzbasiertes Vorgehen in der Reha angesprochen. Es gibt in der Breite der beteiligten Fachgruppen wahrscheinlich unterschiedliche Evidenzquellen und Schwerpunkte. Wie gehst du damit um?
Ja klar - akzelerierte versus prolongierte Knie-Reha. Da streiten sich beispielsweise die Geister. Und je nachdem, von welcher Richtung man sich der Fragestellung annähert, findet man unterstützende Evidenz für das eine oder andere. Es geht dann darum, kontextbezogene Abwägungen vorzunehmen, Richtlinien zu gestalten und Verantwortlichkeiten zu benennen, die eine breite Akzeptanz finden sowie Einzelfallbetrachtungen offen zu lassen – mit viel Kommunikation!
Was ist ein guter Erfolg in der Rehabilitation? Was bedeutet für dich ein guter Platz in der Ergebnisliste?
Ein Reha-Ergebnis ist für mich dann ideal, wenn einE AthletIn auf allen Ebenen leistungsbereit, voll belastbar und persönlich gereift, aber auch freudvoll wieder zurück in den Sport kommt – nachhaltig. Der sportliche Erfolg kann dann eine Folge davon sein. Letztlich muss man sich aber auch im Klaren sein, das im Leistungssport-Kontext alles mit dem Erfolg steht und fällt.
Wie sieht „leistungsbereit“ für dich konkret aus – woran macht ihr das fest?
Beim Knie-Beispiel bleibend, gibt es vorm Übertritt in das skifahrerische Aufbautraining folgendes Prozedere: Abschlussuntersuchung und klinische Freigabe, dann funktionsorientierte Testung (Kraft, Bewegungskontrolle etc) mit Benchmarks die es zu erreichen gilt. Ein kurzes sportpsychologisches Assessment und die Trainer-Einschätzung. Danach gemeinsame Reflexion mit dem/der AthletIn und Planung der nächsten Schritte bis zu „Zurück-in-den-Wettkampf“ – wenn nötig mit weiteren Zwischen-Evaluationen.
Welche Qualitätskriterien hast du für Team-Physios?
Da möchte ich unterscheiden zwischen fachlicher Expertise und Bereichen wie Sozialkompetenz, Teamfähigkeit etc. mit Konzentration aufs Fachliche. Eine qualitativ hochwertige Sportphysioweiterbildung ist absolut von Vorteil. Das Dranbleiben an Entwicklungen etwa mit Kongressbesuchen, Literaturstudium und dem regen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, das wünsche ich mir. Die Bereitschaft hands-on zu arbeiten und auch die aktiven Maßnahmen mitzugestalten, muss vorhanden sein. Dazu braucht es das Vermögen, Sportarten differenziert auf das Leistungs- und Beanspruchungsprofil hin analysieren zu können und Maßnahmen abzuleiten. Es geht um Kooperationsbereitschaft, die Fähigkeit, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen und vieles mehr. Idealerweise bringen sie auch Sporteigenerfahrung mit, um sich besser in die unterschiedlichen Gegebenheiten hineinversetzen zu können.
Was kannst du jungen Kolleginnen und Kollegen raten, die einmal im Spitzensport arbeiten wollen?
Rollenverständnis und Rollenklarheit entwickeln – was ich gerne so formuliere: Unsere Kernaufgabe ist Gesundheit, Erhaltung oder Wiederherstellung - nachhaltig. Ihr habt das Know-how dazu. Lebt es, steht ein für euer Wissen und Können, pflegt es und entwickelt es weiter - dann kann man tragender Teil eines Teams sein und gegebenenfalls Zusatzaufgaben mitübernehmen. Im Spitzensport geht es um Leistungsmaximierung. Bringt euch im richtigen Maß ein, seid konstruktiv kritisch. Verwaltet eure Ressourcen gut. Pflegt Kontakte auch außerhalb des Sports, verliert nicht den Bezug zur Nicht-Sport-Realität. Stärkt euch selber und die eigene Berufsgruppe durch intensiven Austausch – wachst miteinander. Und nicht vergessen: Es geht nur um die wichtigste Nebensache der Welt.
Was waren denn für dich, für deinen Beruf, deine Tätigkeit die wichtigsten Inputs der letzten Jahre?
Die internationalen Kontakte, das Netzwerk der IFSPT – die Schweizer Kollegen, das Miteinander über die Berufsgruppen hinweg. Das gemeinsame Organisieren des internationalen Salzburger-Sportphysio-Symposiums (2022 geht’s weiter) mit vielen spannenden Begegnungen und Inputs. Und ich bin froh, mir noch ein berufsbegleitendes Studium zugetraut zu haben – in einem angrenzenden Berufsfeld: Coaching und Entwicklung.
Interview: Karl Lochner