Zudem scheint die Sprachbarriere auch heute noch einen
Schlüsselfaktor im Versorgungssystem darzustellen. In Stu-
dien zeichnet sich ab, dass nicht nur die sprachliche Kom-
petenz der Patientinnen häufig eingeschränkt ist, sondern
auch, dass dies durch medizinisches Fachpersonal inkom-
petent kompensiert wird. So zeigt sich, dass die Anamnese
bei türkischen Patientinnen in Studien im Vergleich zu
deutschen Patientinnen meist kürzer ausfällt, diese häufig
zudem lückenhaft ist und mehr psychosomatische Diagno-
sen gestellt werden. Professionelles Arbeiten ermöglicht in
diesem Fall einzig eine Unterstützung durch eineN Dolmet-
scherIn. Hierbei sollten keine Familienmitglieder eingesetzt
werden, da diese häufig filternd auf das Gespräch einwir-
ken. Zu empfehlen wären DolmetscherInnen, die beide
Sprachen beherrschen und auch im medizinischen Bereich
Grundkenntnisse aufweisen, welche in Österreich derzeit
nur marginal zur Verfügung stehen.
Auch das Krankheitsverständnis der Patientinnen kann ab-
weichend sein. Krankheiten werden nicht auf eine Körper-
region bezogen. Vielmehr zeigt sich oft eine ganzheitliche
Sichtweise, wodurch nicht ein Körperteil sondern der ganze
Mensch betroffen ist. Im Rahmen einer Studie wurden 183
TürkInnen, 94 türkische MigrantInnen in Deutschland und
91 Deutsche mittels Fragebögen zur Somatisierung mit
Hilfe einer Liste von 52 Krankheiten befragt. Türkische
MigrantInnen und türkische StaatsbürgerInnen gaben über
alle Indizes hinweg mehr somatoforme Beschwerden an
als Deutsche. Türkische MigrantInnen und TürkInnen
unterschieden sich nicht voneinander, was den Einfluss
von Migration relativiert und kulturelle Aspekte als mögliche
Begründung für die gesteigerte Somatisierung in den Vor-
dergrund stellt. Da Symptome und Grunderkrankung in der
türkisch-muslimischen Gesellschaft meist ident gesehen
werden, gilt die Krankheit oder Funktionsstörung als ge-
heilt, wenn das Symptom verschwindet, wodurch die häufig
beklagte schlechte Compliance verständlicher wird. Diese
Annahmen sollten bereits in der Anamnese mit muslimi-
schen PatientInnen verbalisiert werden.
Zu deutlichen Abweichungen kann es auch im Rahmen
der Schmerzanamnese kommen. Als Schmerz wird nicht
wie im europäischen Kulturkreis rein die sensorische Rei-
zung bezeichnet, sondern vielmehr das gesamte Krank-
heitsgeschehen. Im türkisch-muslimischen Kulturkreis
weist die Äußerung von Schmerz auch eine soziale Kom-
ponente auf. Das laute Äußern von Schmerz, das kulturell
akzeptiert ist, signalisiert den Wunsch nach Zuwendung
durch Familie aber auch durch medizinisches Fachperso-
nal. Auch verkörpert die Signalisierung von Schmerz
häufig die Angst vor neuen Schmerzen, worauf vor allem
im therapeutischen Bereich eingegangen werden sollte.
Hierbei könnten die Verbalisierung der geplanten Maß-
nahmen und eine ausführliche Aufklärung hilfreich sein.
Potentiale zur transparenteren Schmerzerhebung erge-
ben sich hier vor allem durch die Zuhilfenahme von Body-
charts oder Dolometern. Im Rahmen einer Studie mit 116
türkisch-muslimischen PatientInnen konnte festgestellt
werden, dass die Einbeziehung von kulturellen Aspekten,
die Auseinandersetzung mit Migration, Motivation zur
Integration zwar keinen Einfluss auf das direkte Schmerz-
geschehen hatte, jedoch die Lebensqualität der Patien-
tInnen signifikant gesteigert werden konnte. So zeigen
sich ein verbessertes Schlafverhalten sowie ein deutlich
gesteigertes Bewegungsverhalten im Vergleich zur
Kontrollgruppe.
Richtet man den Blick in die Zukunft, wird deutlich, dass
es einem Handlungskonzept auf breiter Basis bedarf.
Laut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
wird im Jahr 2050 der Anteil der muslimischen Bevölke-
rung auf 14 Prozent der Gesamtbevölkerung ansteigen,
im Jahr 2012 lag er bei sieben Prozent. Daran sieht man,
dass eine kultursensible Versorgungsausrichtung bereits
eine große Public Health-Relevanz hat, die in Zukunft
noch stark ansteigen wird.
Simone Hofer, BSc
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Themenschwerpunkt
Faktor Mensch in der Physiotherapie
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physio
austria
inform
Juni 2015
»MULTIKULTURALITÄT IST IM ÖSTERREICHISCHEN
GESUNDHEITSWESEN EIN BRENNEND AKTUELLES
THEMA, NICHT ZULETZT DURCH DAS GESELL-
SCHAFTLICHE KLIMA, IN DEM BEDÜRFNISSE
VON MENSCHEN ANDERER SOZIOKULTURELLER
HERKUNFT NUR ZÖGERLICH ZUR KENNTNIS
GENOMMEN WERDEN.«